Ein Kommentar von Elem Raznochintsky
Zwei polnische Bataillone sind am Montag aus Kiew Richtung Charkower Region aufgebrochen. Sobald sich diese militärische Kräfteverschiebung vollends bestätigt, können wir von dem nächsthöheren Schwierigkeitsgrad im Ukraine-Krieg ausgehen. Als Fußnote gilt es, die Aussage Wladimir Putins vom Februar erneut ins Gedächtnis zu rufen, in der er potenzielle Dritte – zum Beispiel Warschau – davor warnt, sich in die militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine einzumischen.
Pathos und Pathologie: Vorzeichen einer "polnisch-ukrainischen Union"
Andrzej Dudas Auftritt im Parlament der Ukraine am 22. Mai war bezeichnend:
"Als Polen warnen wir Europa schon lange vor den imperialen Bestrebungen Russlands und Putins. Gegen den Wunsch, den Einfluss der Sowjetunion und vielleicht sogar des zaristischen Russlands wiederherzustellen. Gegen die Abhängigkeit von russischen Energiequellen. Wir haben gesagt, dass dies in der Tat eine Waffe ist, die gegen Europa und gegen die Nationen eingesetzt werden könnte. Wir haben das gesagt. Leider hat man uns nicht gehört."
Dudas Position fasst erneut sehr gut zusammen, wie Polen seine historische Rolle gegenüber Russland wahrgenommen hat und vor diesem Hintergrund die heutige Ukraine als Juniorpartner versteht. Im späteren Verlauf des Artikels wird diese Ideologie noch weiter erläutert.
Zudem soll verlässlichen, aber anonymen Quellen aus dem ukrainischen Staatsapparat zufolge Präsident Selenskij seinen polnischen Amtskollegen Duda während des Besuches gebeten haben, polnische Truppen in die West-Ukraine zu schicken, um die an der weißrussischen Grenze stationierten ukrainischen Streitkräfte zu entlasten. Entlasten, denn Letztere wären somit imstande, in die Ostukraine verlegt zu werden, um sich den russischen Streitkräften dort entgegenzustellen. Das würde heißen, dass zurzeit mindestens zwei militärische Bewegungslinien polnischer Truppen simultan erfolgen könnten: An die westukrainische Grenze zu Weißrussland und in die Charkower Region.
Diese politischen Omen häufen sich in den vergangenen Wochen. Zuvor hatte Duda, Anwalt von Beruf, bereits über seine Hoffnung, "keine Grenze" zwischen Polen und der Ukraine zu haben", gesprochen. So nah sollen sich also beide Nachbarländer sein. Selenskij selbst nahm schon im April den Begriff einer "polnisch-ukrainischen Union" in den Mund und hob die so resultierende demografische Stärke eines heutigen Deutschlands hervor.
Auch auf dem VII. Europäischen Kongresses der Lokalregierungen im polnischen Mikołajki am 13. April 2022 wurde bei einer Podiumsdiskussion mit dem Motto "Europa auf der Suche nach Führung" das dringende Konzept einer baldigen "polnisch-ukrainischen Union" besprochen und bejaht. Dieses Gesprächssegment wurde mit eindeutigem Hinweis auf die Aussage des ukrainischen Präsidenten Selenskij angetrieben.
Eine Prise polnische Geschichte
Unionen sind den polnischen Eliten nicht fremd. Schon die 1569 beschlossene "Union von Lublin" ließ die Staatsgebilde des polnischen Königreichs mit dem Großfürstentum Litauen zu einer "Polnisch-Litauischen Union" fusionieren, womit eines der größten Länder Europas entstand. Schon damals war es ein Krieg mit Russland, der Litauen zu diesem Schritt drängte.
Die heutige Ukraine ist flächenmäßig bereits das größte Land des europäischen Kontinents. Von Polen in eine solche Union hineingesogen, würde dazu führen, dass der neue Staat mit weitem Abstand alle anderen an Fläche übersteigen würde. Selbstverständlich wird es zum Zeitpunkt einer solchen Fusion nicht mehr die heutige Ostukraine zur Verfügung stehen, da dort andere mit Russland getroffene Vereinbarungen umgesetzt werden.
Auch, ob es ein gänzlich neuer Staat sein wird, ist sehr fraglich. Eher wird es ein "Anschluss" sein, wie eben 1569. Damals zum territorialen Nachteil des Großfürstentums Litauen, das vier große Regionen an Polen abtreten musste, oder im Falle Deutschlands der "2+4-Vertrag", der die DDR an die BRD anschloss, statt ein "neues Deutschland" – wie im Grundgesetz Artikel 146 verheißungsvoll versprochen – zuzulassen.
Das Jahr 1658 birgt sogar noch mehr regionale Parallelen zu heute: Der sogenannte "Vertrag von Hadjatsch" zwischen der Polnisch-Litauischen Union und den ukrainischen Saporogerkosaken gegen Russland. Nur vier Jahre zuvor legten dieselben Kosaken noch unter ihrem 1657 verstorbenen Anführer und ukrainischen Aufständischen, Bohdan Chmelnizkij, einen Treueeid gegenüber dem russischen Zaren ab. Der "Vertrag von Hadjatsch", obwohl im polnischen Parlament ratifiziert, scheiterte in der Umsetzung kläglich an den unüberbrückbaren Kompromissen, die man in der damals fundamentalen Sphäre der Religion hätte machen müssen. Genau dieses Hin-und-Her der Ukraine ist ein zivilisatorisch-geschichtliches Leitmotiv, das wiederkehrende Parameter trägt.
Wir berichteten bereits im vergangenen März, dass eine kontrollierte Zersprengung der gegenwärtigen Ukraine in einzelne Teile ein immer wahrscheinlicheres Szenario darstellt. Hierzu wurde an historisch begründete Motivationen der polnischen Republik erinnert, die derzeit wieder enorm an Schwung gewinnen.
Die meisten dieser Motivationen sind im sogenannten Intermarium kodifiziert (Polnisch: "Międzymorze"; Deutsch: "Zwischenmeer"), in der eine "polnisch-ukrainische Union" ein großes Kapitel in der geostrategischen Neupositionierung gegenüber Russland darstellen würde. Insgesamt ist das Endziel, einen breiten geografischen Gürtel politisch zu kontrollieren, der von einer weiten Ostseeküste hinuntergreift zum nordöstlichen Schwarzmeer. Zumindest waren das vor hundert Jahren die Ambitionen des Autors dieser geopolitischen Schule, des polnischen Revolutionärs, Militärs, Putschisten und späteren Staatsmannes Józef Piłsudski.
Demnach ist die "polnisch-ukrainische Union" bei weitem keine kurzfristig-kurzsichtige, im Eifer eines plötzlichen Notfalls zusammengeschusterte Strategie zur geopolitischen Schadensbegrenzung, die man in Friedenszeiten nie ersonnen hätte.
Es ist vielmehr ein wichtiges, schon älteres, supranationales Gedankengerüst einiger polnischer Eliten, das einen Bruchteil anderer Initiativen Polens der vergangenen hundert Jahre darstellt und heute als moderner Hybrid fortbesteht. Betrachtet man die osteuropäische Geschichte etwas genauer, so erfährt man vom polnisch-litauischen Krieg (1919 bis 1920) und dem Streit um die Stadt Wilna. Auch kommt der polnisch-ukrainische Krieg (1918 bis 1919) und die spätere oft gewaltsame Unterdrückung ukrainischer Unabhängigkeitsbestrebungen durch Polen in den Zwischenkriegsjahren in den Sinn. Gebietskonflikte mit der Tschechoslowakei tauchen auf, die 1938 darin münden, dass die polnische Republik gemeinsame Sache mit Hitlerdeutschland macht. Dies haben die Tschechen bis heute nicht ganz vergessen.
Diese regionalen, aber wichtigen "Heizkessel" bis 1939 waren die bedeutendsten Hindernisse, die das von Polen geführte Intermarium noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges verwelken ließen. Zu stark war das Misstrauen der anderen Nachbarstaaten gegenüber Piłsudskis Zusicherungen, dass in einem von Polen vollendeten Intermarium nationale Selbstbestimmung für alle Mitglieder garantiert bleiben würde. Zu groß war damals das Desinteresse in Washington und London.
Als Warschau nach dem Zweiten Weltkrieg als sozialistische Volksrepublik Polen existierte, waren all diese Vorhaben entschärft und ad acta gelegt, da offiziell eine systemische Assoziation zur Sowjetunion bestand. Erst als Polen kurz vor der deutschen Wiedervereinigung in den westlichen Einflussraum zurück entlassen wurde, sind die alten geostrategischen Ambitionen schrittweise und unter neugieriger Aufsicht der USA zusammengeflochten worden.
Piłsudskis trotziger Titan
Ein Vermächtnis Piłsudskis ist aber noch viel lebendiger und signifikanter heute als das verstaubte Intermarium, was de jure in vielerlei Hinsicht sowieso über andere Wege mit der Gründung und Ausweitung des EU-Projektes erreicht wurde. Des besseren Verständnisses wegen sollte es auch beim Namen genannt werden: Der Prometheismus. Diese Ideologie, von Piłsudskis Polen angetrieben, sah vor, den stetig wachsenden Einflussraum der Sowjetunion ostwärts zurückzudrängen. Es ging aber nicht nur um die damalige Sowjetunion, sondern um eine grundsätzliche und pauschale, weiter zurückreichende Aufmüpfigkeit gegenüber dem Kreml, egal wer dort gerade regiert.
Indizien darauf gibt Piłsudskis sozialistisch motivierter Versuch, mit seinem eigenen Bruder Bronisław sowie mit dem älteren Bruder Lenins, Alexander Iljitsch Uljanow, das zaristische Russland zu stürzen, indem sie im Jahr 1887 den damaligen Zaren Alexander III. zu ermorden versuchten.
Der polnische Prometheismus ist politikwissenschaftlich also ziemlich farbenblind, flexibel und unter einer allumfassenden Russophobie zu verbuchen. Einer Russophobie, die viele Jahrhunderte eines sicherlich bisweilen gerechtfertigten, aber meist irrationalen Argwohns in sich bündelt. Der Prometheismus ist zudem mit dem angelsächsischen Gesuch einer totalen Zerlegung, ja Eroberung Russlands zu vergleichen, wie sie auch Napoleon, die US-amerikanische Oligarchie vor der Russischen Revolution 1917 und natürlich auch Hitler – und sogar die Katholische Kirche selbst – ersehnt haben.
Letzteres ist ein bahnbrechend wichtiges Thema für eine separate Publikation, in der man für dasselbe umkämpfe Gebiet Osteuropas noch weiter zurückgehen muss bis ins Jahr 1054, als das "Große Schisma" stattfand: Der Bruch zwischen der Römisch-Katholischen-Kirche (die freilich bis heute prägend in Polen positioniert ist) und den Byzantinisch-Orthodoxen Kirchenzweigen, die ihre heutigen Erben in großen Teilen in der Russisch-Orthodoxen Kirche und somit in Russland verortet.
Jedenfalls ist die jetzige, plumpe und sehr transparente Sanktionspolitik Brüssels genauer betrachtet ein moderner, europäischer, westlicher Prometheismus, der rasant wächst.
Der ausgeleierte Begriff der Souveränität
Über die territoriale und politische Souveränität der Ukraine wird derart viel gesprochen, dass man gar nicht bemerkt, wie sinnentleert das Konzept in Anbetracht der realen Ereignisse und Interessen ist. Selenskij nutzte Dudas Besuch im Kiewer Parlament, um bei seiner eigenen Ansprache ein Gesetz anzukündigen, das polnischen Bürgern erlauben soll, in allen relevanten Sphären der Ukraine Ämter und Positionen zu besetzen. Dies gelte für kommerzielle, öffentliche, föderale und regionale Einrichtungen. Die Besonderheit sei dabei, dass all das möglich werde, ohne dass die Polen die ukrainische Staatsbürgerschaft akquirieren müssten. Dies gelte für alle Staatsgewalten, nicht zuletzt die Jurisdiktion – konkret, das Verfassungsgericht. Das Brüsseler Gerede darüber, dass die Ukraine "demokratisch" und "souverän" bleiben muss, ist unter Berücksichtigung der im Hintergrund liegenden, gegensätzlichen Faktenlage ein karikaturhafter und zynischer Widerspruch.
Es kommt noch abstruser, was allem Anschein nach der westukrainischen Bevölkerung noch gar nicht klar ist: Das EU-Assoziierungsabkommen von 2013, dass unter Poroschenko 2014 unterschrieben wurde, hat die Ukraine weiter in den EU-Rechtsraum gerückt. Polen indessen ist ein sehr motiviertes und nachtragendes EU-Mitglied. Innerhalb des heutigen Polens zählt man laut der 2015 gegründeten polnischen Organisation "Restytucja Kresów" (ungefähr: "Rückgabe des ostpolnischen Grenzgebiets") circa 100.000 bis 120.000 Staatsbürger, die, vermeintlich juristisch dokumentiert, Ansprüche auf Eigentum stellen können, das sich in der heutigen Westukraine befindet. Mit Eigentum sind vor allem Immobilien gemeint.
Zum Beispiel in der Stadt Lwów, die bis in die 1930er-Jahre eine polnische Mehrheit innehatte (63 Prozent), gefolgt von einer jüdischen Bevölkerung (24 Prozent) und erst an dritter Stelle ethnische Ukrainer (11 Prozent). Dass Lwów historisch eine polnische Stadt ist, gestand sogar Wladimir Putin ein, was aber in Polen zügig als Versuch gedeutet wurde, Polen und Ukrainer zu zerstreiten.
Würde es zu einer polnisch-ukrainischen Union kommen, gelte es, diesen verworrenen Knoten juristisch zu lösen. Zu den polnischen Ansprüchen könnten sich hier potenziell auch ungarische, jüdische und rumänische hinzugesellen, während man sich dann auf das frisch greifende EU-Recht berufen würde.
Außerordentliche Zeiten bedürfen außerordentlicher Schritte
Jeder weiß, dass ein EU-Beitritt der Ukraine in Friedenszeiten noch ein Jahrhundert in Anspruch genommen hätte. Eselsbrücken bei der Neusortierung Osteuropas und weitere Schritte zur Schwächung Russlands sind also vonnöten gewesen. So hat die Entscheidung Moskaus, dem Wertewesten mit einem 15 Jahre lang wohlwollend als Warnung artikulierten Präventivschlag zuvor zukommen, den bisher fehlenden Anlass endlich geliefert.
Durch eine solche polnisch-ukrainische Union wäre zumindest ein noch von der NATO zu erobernder, westlicher Teil der Ukraine zügig in die Europäische Union eingesogen worden. Das stellt auch ein mögliches Eilverfahren dar, was unter normalen Umständen einen baldigen EU- und NATO-Beitritt der Ukraine unmöglich machen würde. Das korrespondiert mit dem, was der französische Europa-Minister Clément Beaune vergangenen Sonntag klarstellte:
"Wir müssen ehrlich sein. Wenn man sagt, dass die Ukraine in sechs Monaten oder in ein oder zwei Jahren der EU beitreten wird, dann lügt man. Wahrscheinlich dauert es 15 oder 20 Jahre, das ist eine lange Zeit."
Der gute Minister geht aber bei dieser Aussage von idealen Verhältnissen aus. Die Gegenwart ist zurzeit leicht abseits von ideal und somit voller Chancen. Nicht zuletzt, weil eben eine geopolitische Torschlusspanik herrscht.
Die einzige Hoffnung für das derzeitige Kiewer Regime ist gebunden an die Fähigkeit Polens, für eine Einvernahme der Westukraine einerseits alle juristischen und legislativen Hintergrund-Prozesse rechtzeitig aufzubereiten und andererseits seine militärischen Kräfte innerhalb seines verzweifelten Nachbarn so unauffällig wie möglich zu positionieren.
Böse Zungen behaupten sogar, dass Präsident Selenskij seine ukrainischen Truppen aus der Westukraine vorsätzlich abzieht und gegen die Russen im Osten des Landes verheizt, um an der Westfront den Polen keine unnötigen Irritationen zu bereiten, wenn es gilt, die "Union" auszurufen.
Sobald die Westukraine de jure zu polnischem Staatsgebiet ausgerufen werden würde, wäre das "außerordentliche" Eilverfahren zum trojanischen EU-Beitritt eines Teils der Ukraine vollendet. Selenskij, seine Mitstreiter, das polnische "Brudervolk" im Westen sowie Selenskijs Gläubiger in London und jenseits des Atlantiks arbeiten alle diesem Prozess zu oder behindern ihn zumindest nicht. Ohne dass sich bisher größere Proteste innerhalb der Ukraine gerührt hätten. Zu allumfassend ist die Gegenwart des Krieges im eigenen Land, zu übertönend die rauschende Propaganda, als dass man das Kleingedruckte rechtzeitig zu lesen bekommen und begreifen würde.
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