Oleg Zarjow, prominenter Oppositionspolitiker der Ukraine und dort verfolgt, teilte auf seinem Telegram-Kanal mit, dass sein Halbbruder, Michail Zarjow, offenkundig vom ukrainischen Geheimdienst SBU verhaftet wurde. Einem Foto nach zu urteilen, das vom Geheimdienst verbreitet wurde, handele es sich bei dem Häftling um seinen Bruder, schrieb Zarjow.
Der Politiker ging in seiner Nachricht auf die komplizierte Familiengeschichte ein und betonte, er habe auch in der politisch schwierigen Lage in der Ukraine seit dem Jahr 2014 immer versucht, den Kontakt zu allen Verwandten aufrechtzuerhalten, jedoch nicht zu seinem Halbbruder und anderen Halbgeschwistern väterlicherseits.
Zarjow stellt zwischen der Kapitulation der neonazistischen "Asow"-Kämpfer in Mariupol und der Verhaftung seines Halbbruders einen politischen Zusammenhang her:
"Heute Morgen habe ich die Nachrichten auf ukrainischen Kanälen gesehen. Mir ist aufgefallen, dass nirgends von der Kapitulation von 'Asow' in Mariupol die Rede war. Während ich die Sendung sah, fragte ich mich, wie das Büro von Präsident Selenskij die Medienagenda unterbrechen würde. Nun, jetzt ist es klar. Ich schaltete den Fernseher ein – auf allen Kanälen wurde über die Verhaftung meines Halbbruders berichtet, dessen einziger Fehler darin bestand, dass er und ich denselben Nachnamen tragen."
Zu dem Platz, den der Halbbruder in seinem Leben einnimmt, schreibt der Politiker:
"Ich wurde von meiner Mutter erzogen. Meine Mutter ließ sich von meinem Vater scheiden, als ich fünf Jahre alt war, und ich hatte nur sehr wenig Kontakt zu meinem Vater. Im selben Jahr, in dem sich mein Vater von meiner Mutter scheiden ließ, heiratete er und bekam in der neuen Ehe Kinder. Die Mutter meiner väterlichen Brüder stammte aus der Westukraine, aus der Stadt Ternopil.
Ich habe immer versucht, allen meinen Verwandten, der Familie meiner Frau, Freunden und Bekannten zu helfen. Aber im Jahr 2014, als meine Familie in einer schwierigen Situation war, verschwanden viele derjenigen, denen ich jahrelang geholfen hatte, plötzlich von der Bildfläche. Zu denjenigen, mit denen ich seit 2014 keinen Kontakt mehr habe, gehören meine Halbbrüder väterlicherseits."
Am Nachmittag veröffentliche der Geheimdienst SBU ein Video, in dem er die Verhaftung von Michail Zarjow bestätigte. In dem Video wird behauptet, dass der Verhaftete Sabotageakte vorbereitet und von der Rückkehr des 2014 gestürzten Präsidenten Janukowitsch geträumt hätte. Beweise dafür wurden nicht präsentiert.
Über die Ukraine rollt seit Beginn der russischen Intervention am 24. Februar 2014 eine Repressionswelle gegen Oppositionelle. Mehrere Hundert Personen sind insbesondere im Zeitraum zwischen Anfang und Mitte März unter teils nicht aufklärbaren Umständen verschwunden. Von einem Teil ist inzwischen bekannt, dass sie sich – teilweise ohne jegliche Gerichtsentscheidungen – in Sondergefängnissen des ukrainischen Geheimdienstes in Haft befinden. Zu dieser Gruppe gehören unter anderem der Journalist aus Odessa Juri Tkatschow und der christliche Publizist und Schriftsteller Jan Taxyr. Ebenfalls bekannt ist, dass sich der Oppositionsführer Wiktor Medwedtschuk in den Händen des SBU befindet.
Von anderen fehlt bis heute jede Nachricht, so dass befürchtet wird, dass sie nicht mehr am Leben sind. Zu dieser Gruppe Vermisster zählen die Journalistin und frühere Abgeordnete Elena Bondarenko, die Politologen Dmitri Dschangirow und Juri Dudkin, der oppositionelle Abgeordnete Nestor Schufritsch, die Kommunisten Alexander und Michail Kononowitsch, der linke Politiker und Geschäftsmann Wassili Wolga, der frühere Offizier Wlad Mulyk und viele andere.
Ein neuer Name ist auf der Liste Verschwundener inzwischen hinzugekommen: Der Energiemarktexperte Dmitrij Marunitsch. Es gibt Andeutungen des SBU, dass er verhaftet wurde, weil er einen Vertrag über publizistische Tätigkeit mit RT abgeschlossen hatte, was der Sicherheitsdienst als Landesverrat wertet. Es gibt aber weder eine offizielle Bestätigung dazu, noch Gerichtsentscheidungen, die seine Verhaftung legitimieren würden. Dennoch gibt es seit mehreren Wochen keinerlei Lebenszeichen von ihm.
Insgesamt geben ukrainische Anwälte die Zahl der Verschwundenen mit mehreren Hundert an.
Von den prominenten Oppositionellen, über deren mutmaßliches Verschwinden RT DE im März berichtet hatte, ist bislang nur das Schicksal von zwei Personen im positiven Sinne geklärt worden, darunter das des Musikers und Journalisten Taras Nesalezhko, dem die Flucht nach Russland gelungen ist.
Die bislang verschwundenen oder verhafteten Personen waren gesellschaftlich, politisch oder publizistisch aktiv, was dennoch keine Rechtfertigung für ungesetzliche Repressalien oder gar Mord ist. Der Halbbruder von Oleg Zarjow hingegen war nie aktiv und stand nicht in der Öffentlichkeit. Mit seiner Verhaftung führt der SBU das nazistische Prinzip der Sippenhaft ein.
Der im spanischen Asyl lebende Schriftsteller und Ukraine-Experte Lew Werschinin kommentiert den Vorfall so:
"Kurz und knapp auf Russisch: Der Gestapo-Abschaum hat den Halbbruder von Oleg Zarjow verhaftet. Natürlich unter dem Vorwurf des Landesverrats und der Vorbereitung von etwas Schlimmem. Dabei wird nicht einmal berücksichtigt, dass der Mann acht Jahre lang still wie eine Maus gelebt hat, den Machthabern gegenüber völlig loyal war und alle Beziehungen zu dem in Ungnade gefallenen Verwandten abgebrochen hat, mit dem er auch vorher nicht viel zu tun gehabt hatte. Doch es gibt keinen Ausweg, er ist genetisch der Halbbruder von Oleg Anatoljewitsch und sitzt nun hinter Gittern.
Diese Tatsache ist von vielen beschrieben worden als kleinliche Rache von gemeinen Menschen, und da ist etwas Wahres dran. Das Prinzip "Dein Bruder konnte uns entkommen, aber du wirst uns nicht entkommen" hat es in der Vergangenheit schon einmal gegeben, die Gestapo auch, aber das nur nebenbei. Die Hauptsache ist ganz sicher, dass die Behörden (der Ukraine) einen Tauschfonds aus ihren eigenen Bürgern bilden, die sich nichts zuschulden kommen lassen, aber nach den Vorstellungen der Gestapo verkauft werden können, und hier beruht das Kalkül natürlich auf der Tatsache, dass Familie Familie ist, man kann sie erpressen, womöglich mit Erfolg.
(...)
Es ist eindeutig und unbestreitbar an der Zeit, dass die Behörden der Koalitionsländer den SBU zu einer kriminellen Vereinigung erklären, so dass die bloße Zugehörigkeit zu dieser im Falle einer Verhaftung die volle Bandbreite der entsprechenden Konsequenzen nach sich zieht."
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