Friedbert Pflüger an Wolfgang Ischinger: Hiroshima und Nagasaki sind vergessen

Der außen- und sicherheitspolitische Experte Friedbert Pflüger hat vor einem Atomkrieg gewarnt, falls es nicht gelingt, die Konflikte mit Moskau beizulegen und eine neue Entspannungspolitik einzuleiten. Sein Appell erschien wenige Tage vor Beginn der "Münchner Sicherheitskonferenz".

Die "Münchner Sicherheitskonferenz" (englische Abkürzung: MSC) findet in diesem Jahr vom 18. bis 20. Februar statt. In deren Vorfeld hat der CDU-Verteidigungspolitiker und frühere Bundestagsabgeordnete Friedbert Pflüger einen offenen Brief geschrieben. Er richtet sich an den Vorsitzenden der MSC, den deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger, und wurde nun von der Zeitschrift Cicero veröffentlicht. Mit teils drastischen Worten mahnt Pflüger zur Deeskalation im Ukraine-Konflikt. Denn dieser könnte, wie er meint, schlimmstenfalls in einen Atomkrieg zwischen Russland und der NATO münden.

Bemerkenswert ist der Appell auch deshalb, weil er auf Befürchtungen und Divergenzen im (west)deutschen liberalkonservativen Lager hindeutet, das traditionell transatlantisch orientiert ist. Diese Meinungsverschiedenheiten entzünden sich an der Russland/Ukraine-Politik.

Die Münchner Sicherheitskonferenz findet in diesem Jahr ohne russische Beteiligung statt. Moskau hatte erklärt, das Münchner Treffen habe seinen Charakter als Diskussionsveranstaltung verloren. Wegen der einseitig prowestlichen Ausrichtung der Veranstaltung habe eine Teilnahme für Russland keinen Sinn mehr. Medienberichten zufolge werden unter anderem der US-Außenminister Antony Blinken, Bundeskanzler Olaf Scholz und der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in die bayrische Landeshauptstadt kommen.

Friedbert Pflüger bedauert in seinem Schreiben an Wolfgang Ischinger ("Wir sind beide Kinder des Westens!") das Fernbleiben der russischen Seite in diesem Jahr. Und gleich zu Beginn spricht der CDU-Verteidigungspolitiker einen Appell und eine Hoffnung an Ischinger aus. Nämlich dass es dem "ganz großen Diplomaten" gelingen möge,

"mit der MSC einen Beitrag zur Abwendung eines real drohenden Krieges mit desaströsen Folgen für uns alle zu leisten."

Ischinger hatte Anfang des Monats nach einer Klausurtagung der CSU-Landesgruppe zu erkennen gegeben, dass er für deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine eintritt. Pflüger unterstreicht, dass er zwar wie Ischinger "deutsche Sonderwege" ablehne und für eine "geschlossene Haltung in EU und NATO eintrete. Aber der CDU-Politiker erinnert den Diplomaten daran, dass man es "immer für wichtig erachtet" habe, einen "Dialog und Interessenausgleich mit Russland anzustreben." Die beiden Experten kennen sich seit einem Studienaufenthalt Pflügers 1980 in den USA.

Offensichtlich geht Pflüger davon aus, dass die USA und die NATO aktuell nicht mehr unbedingt den Dialog mit Russland suchen. Allerdings mache Moskau es dem Westen auch sehr schwer. Der CDU-Politiker stellt in seinem Brief Überlegungen an, wer im gegenwärtigen Konflikt die Guten und wer die Bösen sind. Dabei kommt er, und das überrascht nicht, zu dem zu erwartenden Ergebnis. Anschließend äußert sich Pflüger allerdings zu vier Themenkomplexen rund um die Ukraine.

Gefahr eines Atomkriegs

Pflüger verweist auf Warnungen des konservativen Historikers Michael Stürmer. Dieser hatte kürzlich darauf aufmerksam gemacht, "dass das gegenwärtige Kräftemessen leicht 'jene Dynamik auslösen könne, die schon 1914 zur Katastrophe führte'. (Die Welt, 1.1.2022)."

Viele westliche Politiker, Experten und Journalisten lieferten sich angesichts der Konfrontation mit Moskau einen "Überbietungswettbewerb mit immer härteren Drohungen und Sanktionsforderungen". Wer dagegen versuche, die Motive der russischen Seite zu verstehen, werde "leicht diffamiert".

In Deutschland , so scheint es Pflüger, hätten viele die Lehren der beiden Weltkriege und das "Leid der Bombennächte" verdrängt.

"Die Atompilze von Hiroshima und Nagasaki sind unserem kollektiven Bewusstsein entronnen. Die historische Lehre wird vergessen, dass in einer Atmosphäre der Drohungen, Ultimaten, der Aufrüstung und Militäraufmärsche oft nur ein Funke ausreicht, um einen Flächenbrand auszulösen."

Ein Krieg ließe sich nicht auf die Ukraine begrenzen. Weil keine Seite "schwächeln" oder ihr "Gesicht verlieren" wolle, könnte es zu einer Eskalationsdynamik kommen, die in einen großen Krieg münden würde, in dem Atomwaffen eingesetzt werden könnten. Das "Restrisiko" dafür sei jedenfalls "unerträglich hoch".

Deeskalation und Absage an Waffenlieferungen

Daher seien sprachliche Mäßigung und Deeskalation geboten. Pflüger stellt sich ausdrücklich hinter die Bundesregierung, die bisher Waffenlieferungen an Kiew abgelehnt hat – und damit gegen Ischinger. Seine Überlegung dazu:

"Wenn Putin wirklich mit dem Gedanken eines Einmarsches spielt, warum sollte er dann warten, bis neue Waffensysteme installiert sind?"

Niemand im Westen würde eigene Soldaten zur Verteidigung in die Ukraine schicken wollen, "nicht einmal der größte 'Falke' in den USA", stellt Pflüger fest. Auch sei die Vorstellung einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft "wenig überzeugend". Wenn schon jetzt niemand im Westen eigene Soldaten in die Ukraine entsenden möchte, wie verhielte es sich dann erst bei einer Mitgliedschaft und der damit verbundenen Beistandsgarantie?

Als Pressesprecher besuchte Pflüger 1987 zusammen mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Leningrad den Piskarjowskoje-Friedhof. Dort liegen eine halbe Million Soldaten und zivile Opfer der deutschen Blockade begraben. Angesichts der 27 Millionen Toten in der Sowjetunion infolge des Überfalls Nazi-Deutschlands könne es nur heißen: "Nie wieder!"

Neutralität für die Ukraine

Zwar vertritt Friedbert Pflüger auch heute noch die Ansicht, dass die NATO-Osterweiterung richtig gewesen sei. Damals sei es um "Stabilität und Sicherheit" der "jungen Demokratien in Mitteleuropa" gegangen. Die "Öffnung" der NATO richte sich nicht gegen Russland.

Doch auf dem NATO-Gipfel 2008 habe man die Absicht verkündet, auch Georgien und die Ukraine in die Militärallianz aufzunehmen. Das sei für Moskau nicht länger hinnehmbar gewesen. Eine Folge sei die "Militärintervention in Georgien" gewesen (die tatsächlich jedoch eine Reaktion auf den georgischen Angriff auf Südossetien und die dort stationierten russischen Friedenstruppen darstellte).
Das Russland von heute sei "politisch und militärisch stärker" als das Land 2008. Und Einflusszonen von Großmächten seien nun einmal, ob einem das gefalle oder nicht, eine "Realität". Die historische Erfahrung, dass über Jahrhunderte wiederkehrend Angriffe aus dem Westen kamen, sei "tief im Gedächtnis der russischen Nation verankert". Daher schlussfolgert Pflüger:

"US-Streitkräfte noch dichter vor der Haustür? Nicht nur Putin, jeder Nachfolger – selbst im (unwahrscheinlichen) Fall, dass das ein liberaler Demokrat wäre – würde sich wehren."

Die "Charta von Paris" (1990) garantiere zwar die "freie Bündniswahl", doch folge darauf "keine Aufnahmegarantie" (Hervorhebung im Original). Neutralität sei der einzige Weg, um den Frieden in Europa zu bewahren:

"Eine Österreich- oder Finnland-Lösung, wie sie im Kalten Krieg beiden Ländern trotz militärischer Neutralität eine enge Anbindung an die westlichen Institutionen ermöglichte – ist heute der einzige Weg, den Frieden zu erhalten."

Wiederauflage der KSZE und Klima-Projekte

Als positiven Ausblick und konstruktive Lösung entwickelt Friedbert Pflüger schließlich die Idee einer neuen, zweiten "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa". Die Verhandlungen, die 1975 zur Schlussakte von Helsinki geführt hatten, sollten zwischen den europäischen Staaten unter Einschluss von Russland, der Ukraine, aber auch den USA und Kanada wieder aufgenommen werden. Diese Konferenz solle Fragen von gemeinsamem Interesse behandeln, als da wären:

"Keine Verschiebung von Grenzen, Anerkennung von Minderheiten (z.B. durch eine Südtirol-Lösung für die Ostukraine), grundlegende Menschenrechte, Förderung des Tourismus, des Kultur- und Jugendaustauschs, Vertrauensbildung durch Transparenz bei Militärmanövern, Abrüstung und Transparenz im Cyberspace ..."

Als neues Verhandlungsfeld ("Korb" in der Sprache der ersten Helsinki-Konferenz) schlägt Pflüger, der an der Universität Bonn Internationale Klima- und Energiepolitik lehrt, gemeinsame Klima-, Umwelt- und Energieprojekte vor:

"Erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Wasserstoff, Aufforstung, sichere Behandlung nuklearer Abfälle, Sanierung der Transit-Gaspipeline durch ein EU-Russland-Ukraine-Konsortium usw. Wenn wir an gemeinsamen Zukunftsprojekten im Interesse aller Seiten arbeiten, kann neues Vertrauen entstehen."

Die Betonung liegt hier auf "im Interesse aller Seiten" – in der Tat eine bessere Perspektive als die tödliche Logik von Konfrontation und Eskalation.

Mehr zum Thema - Die zweite Rede des Wladimir Putin – oder: 15 Jahre nach der Münchner Sicherheitskonferenz 2007