USA sollen die Ukraine verlassen – immer mehr Top-Analysten in den USA fordern ein Umdenken

Mitten in der Hysterie um einen vermeintlichen russischen Einmarsch in die Ukraine mehren sich die Stimmen in der US-Presse, die dem Weißen Haus raten, die Frage der NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine ruhen zu lassen oder sich als USA aus der Ukraine gar gänzlich "zurückzuziehen".

Der langjährige Top-Kolumnist der New York Times (NYT) Ross Douthat ist der Meinung, dass die Vereinigten Staaten den Zenit ihrer Macht schon längst überschritten haben und nun einige ihrer einstigen Einflusszonen räumen müssen. Eine der schwierigsten Herausforderungen in der Geopolitik sei es herauszufinden, wie man einen erfolgreichen Rückzug durchführt, schrieb er in seinem am Samstag erschienenen Artikel unter dem Titel "Wie man sich aus der Ukraine zurückzieht". 

Den Rückzug aus der Ukraine vergleicht er mit dem "katastrophalen Rückzug" aus Afghanistan im August letzten Jahres. Dieser habe die Präsidentschaft von Joe Biden beschädigt und die US-amerikanische Inkompetenz vor aller Welt bloßgestellt. Trotzdem sei die Entscheidung strategisch richtig gewesen. 

"Jetzt stehen wir mit der Ukraine vor demselben Problem. In ihrer Zeit als Hypermacht haben die Vereinigten Staaten eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um ihren Einflussbereich bis tief ins russische Umland auszudehnen", stellt der US-Autor fest.

Der Versuch, die Ukraine aus dem Orbit Russlands herauszulocken, sei töricht und maßlos gewesen. Nun aber sei der Rückzug aus der Ukraine "eine dringende Notwendigkeit", die den USA Kräfte und Ressourcen für die Konfrontation mit China in Ostasien freigeben könne. Der Kolumnist schlägt vor, eine NATO-Erweiterung dauerhaft auszuschieben und die Last der Aufrechterhaltung eines Sicherheitsperimeters in Osteuropa auf europäische NATO-Partner zu übertragen. In diesem Fall würde die Ukraine dem unvermeidlichen russischen Druck ausgesetzt, aber weder überfallen noch annektiert. 

Die Vorstellung, dass ein Ausschluss der Ukraine von der Mitgliedschaft in der NATO ein unmögliches Zugeständnis sei, ist seiner Meinung nach längst überholt: "Diese Einbildung ist ein Anachronismus, ein Artefakt aus der Zeit nach dem Kalten Krieg."

Der Artikel des Top-Journalisten Douthat ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Er schlägt nicht nur eine radikale Abkehr der USA von ihrer bisherigen Politik im europäischen Raum vor, sondern gesteht auch ein, dass die USA die Ukraine ähnlich wie Afghanistan im militärischen Sinne okkupiert haben. Das bestätigt die Befürchtungen Russlands, dass sich die Ukraine zu einem von der NATO geführten militärischen Auswuchs entwickelt hat.

Zwar beherrschen die westlichen Meldungen über einen vermeintlich drohenden Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine und Spekulationen über die Strafmaßnahmen gegen Russland noch immer die Atmosphäre auf beiden Seiten des Atlantiks. Als Folge dieser andauernden Hysterie werden derzeit von immer mehr NATO-Staaten immer mehr Waffen in die Ukraine geschickt.

Aber konträre Ansichten wie die des NYT-Kolumnisten sind mitunter nun auch in den renommiertesten US-Medien keine Seltenheit mehr. So veröffentlichte der wissenschaftliche Leiter des Zentrums für Sicherheit und Aufklärung des 21. Jahrhunderts in Brookings Michael E. O'Hanlon am 14. Dezember bei US Today den Artikel "Russland-Ukraine-Konflikt: Amerika braucht eine bessere Idee als die NATO-Erweiterung, um den Frieden zu erhalten". 

"Die Krise in diesem Jahr ist auch deshalb entstanden, weil der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij die NATO gebeten hat, sein Land bald in das westliche Bündnis aufzunehmen", stellt er fest. 

Wachstum um des Wachstums willen sei nie die Idee der NATO gewesen, sagt er im Hinblick auf eine NATO-Osterweiterung. Aus seiner Sicht ist es verständlich, dass Russland besorgt ist über die Versuche, vor allem Länder wie Georgien und die Ukraine in die NATO hineinzuziehen. Sie liegen "vor seiner Haustür" und seien eng mit seiner Geschichte, seiner Bevölkerung, seiner Geografie – und damit seiner Sicherheit – verwoben. 

Bei "allem Respekt" seien sie und andere ehemalige Sowjetrepubliken "keine wichtigen Teile der strategischen Kernzonen der Welt, was ihre wissenschaftlichen, industriellen oder wirtschaftlichen Fähigkeiten angeht".

"Sie sind keine Orte, an die wir bereit sein sollten, US-Truppen zu schicken, um zu kämpfen und zu sterben, mit dem Risiko einer Eskalation bis hin zu einem nuklearen Konflikt im Falle eines Krieges."

Für die Wahrung der Sicherheit in Europa schlug O'Hanlon für diese Staaten langfristige Neutralität oder Blockfreiheit vor. Der Ansatz des Autors schien so wichtig zu sein, dass sein Artikel auch auf der Webseite von Brookings zweitveröffentlicht wurde. 

Es gibt eine Reihe weiterer Publikationen, die diesen Ansatz pflegen. Am 17. Dezember erschien auf der Webseite der Denkfabrik Quincy Institute Responsible Statecraft ein Artikel mit beispiellos scharfer Kritik der bisherigen Russland-Politik der USA. Verfasst wurde er von zwei hochrangigen Publizisten: der Redaktionsleiterin und Herausgeberin des Magazins The Nation, der Kolumnistin der Washington Post und Vizepräsidentin des Amerikanisches Komitee für ein US-Russland-Abkommen Katrina vanden Heuvel, sowie dem ehemaligen Berater für Russland-Fragen in der Obama-Regierung James W. Carden. 

Angesichts der fehlgeleiteten Politik, mit der die USA ihre Verbündeten in Osteuropa und Russland "unsicherer" gemacht haben, fordern sie die Biden-Regierung zum grundlegenden Umdenken auf. Zu den Fehlern zählen sie "die Aufkündigung des ABM-Vertrages, des INF-Vertrages, des Open Skies-Vertrages und die Ausweitung der NATO bis zu den westlichen Grenzen Russlands mit der wiederholten Zusicherung, dass die Ukraine und Georgien in Zukunft NATO-Mitglieder werden". "Das US-Vorgehen gegenüber der Ukraine" im Jahr 2014 und eine weitere Reihe von den "USA finanzierter Farbrevolutionen in den 2000er Jahren" zählten sie auch dazu. 

"Wie würde ein US-amerikanischer Staatschef reagieren, wenn Russland und/oder China mit dem Bau von Militärstützpunkten in Mexiko beginnen würden? Sind die in der UN-Charta verankerten Ideale wie die Nichteinmischung in die souveränen Angelegenheiten anderer Länder nur von Russland zu befolgen?", fragten sich die beiden Autoren.

Der von den USA angeführten westlichen Welt unterstellten die Kolumnisten ein "magisches Denken", das ständig Feinbilder produziert. Sie lassen den berühmten US-Diplomaten George F. Kennan zitieren: 

"Es gibt nichts in der Natur, das egozentrischer ist als eine angegriffene Demokratie. Sie wird schnell zum Opfer ihrer eigenen Kriegspropaganda. Sie neigt dann dazu, ihrem Selbst einen absoluten Wert beizumessen, der ihre eigene Sicht auf alles andere verzerrt. Der Feind wird zur Verkörperung des Bösen. Die eigene Seite ist das Zentrum aller Werte."

Vanden Heuvel und Carden machen keine konkrete Vorschläge, wie man in der aktuellen Krisensituation mit der Ukraine und Russland zu verfahren hat, empfehlen aber dringend dem US-Präsidenten Biden, das "magische Denken" seiner Vorgänger abzulegen und es durch eine Politik der "strategischen Empathie" zu ersetzen. 

Die US-Regierung ist noch weit davon entfernt, diesen Forderungen Gehör zu verschaffen. Immer noch sind in den Führungskreisen der USA Positionen solcher ausgewiesenen Russland-Gegner wie der Vize-Außenministerin Viktoria Nuland stark, die Russland bei jeder Gelegenheit mit immer schärferen Sanktionen droht. Aber die Tatsache, dass jene Stimmen, die dazu aufrufen, die US-Politik gegenüber Russland derart grundlegend zu ändern, nicht nur vom politisch-medialen Rand kommen, sondern aus der Mitte des medialen Establishments, spricht dafür, dass sie zu einem vernehmbaren Teil des öffentlichen Diskurses im Westen werden.

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