Eine Analyse von Paul A. Nuttall
Als Joe Biden Präsident der Vereinigten Staaten wurde, atmete man in Brüssel erleichtert auf. Weg war der unberechenbare und offen euroskeptische Donald Trump, ins Amt kam ein Mann, mit dem man umgehen konnte. Die Eurokraten dachten sich wohl, dass es mit dem Amtsantritt Bidens aufgrund von ideologischer Nähe und gegenseitigem Vertrauen eine Rückkehr zur Normalität und zu herzlicheren Beziehungen geben könnte. Es kam jedoch anders als erwartet.
Man kann durchaus sagen, dass die Europäische Union eine zwiespältige Beziehung zur Trump-Regierung hatte. Es gab Streitereien um Handel, Finanzen und so ziemlich alles andere. Darüber hinaus war Trump ein offener Befürworter des Brexit, was die Eurokraten zweifellos wütend gemacht haben muss.
Mit Biden im Amt aber, so wird man sich wohl gedacht haben, kann man das alles jetzt hinter sich lassen. Brüssel sah sich einem Mann im Weißen Haus gegenüber, mit dem man umgehen konnte: einem, der internationale Gremien wie die EU instinktiv befürwortete und im Gegensatz zu seinem widerspenstigen Vorgänger bereit war, die Interessen der internationalen Gemeinschaft über die Interessen der USA zu stellen.
In gewisser Weise wurden sie nicht enttäuscht. Biden machte Trumps Entscheidung, vom Pariser Klimaabkommen zurückzutreten, unverzüglich rückgängig, und er unterstützte die EU nach dem Brexit in ihrem Feilschen mit Großbritannien um das Nordirland-Protokoll. Wenn die Eurokraten jedoch dachten, dass der Aufstieg Bidens zum Präsidenten eine Rückkehr zu den gemütlichen Beziehungen bedeutete, die vor 2016 bestanden hatten, dann haben sie sich gewaltig geirrt.
Mit seinem Abzug aus Afghanistan begann Biden seine Verachtung für die EU zu zeigen. Tatsächlich machte er sich nicht einmal die Mühe, Brüssel im Voraus über seine Entscheidung zum Abzug der US-Truppen zu informieren, obwohl EU-Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Polen und Italien mit eigenen Truppenkontingenten im Land am Hindukusch präsent waren.
Die Beziehungen zwischen den USA und der EU verschlechterten sich zudem mit der Ankündigung, dass Australien sein Abkommen mit Frankreich über die Lieferung dieselbetriebener U-Boote aufkündigen und sich stattdessen einem Abkommen mit den USA und Großbritannien zuwenden werde.
Der seither als AUKUS bekannt gewordene Pakt war ein schwerer Schlag für das Ansehen Frankreichs, das durch den aufgekündigten Vertrag, 37 Milliarden Dollar Auftragsvolumen für die eigene Industrie verlor. Damals sagte Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian:
"Diese brutale, einseitige und unvorhersehbare Entscheidung erinnert mich sehr an das, was Trump getan hätte. Ich bin wütend und verbittert. So was macht man nicht unter Verbündeten. Das ist wirklich ein Dolchstoß in den Rücken."
Obwohl Biden später versuchte, den Ahnungslosen zu geben, war das Vertrauen gebrochen und der Schaden angerichtet. Mit solch einem instabilen Partner in den eigenen Reihen versuchte die EU seither, einen unabhängigen Weg im Bereich der Verteidigung einzuschlagen. So besuchte beispielsweise der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, in der vergangenen Woche die ukrainisch-russische Grenze.
Dort forderte er die EU auf, sich an allen Gesprächen zwischen den USA und Russland zu beteiligen. Borrell sagte: "Wir befinden uns nicht mehr im Zeitalter von Jalta", eine Anspielung auf den Gipfel kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, auf dem die "Großen Drei" – die Sowjetunion, Großbritannien und die USA – untereinander vereinbart hatten, wo nach dem Krieg in Europa ihre Einflusssphären liegen werden.
Bei den in Genf stattgefundenen Gesprächen zwischen den USA und Russland über die Lage in der Ukraine stand die EU jedoch nicht in der ersten Reihe. Die Botschaft war klar: Die EU wird nicht für würdig erachtet, den Supermächten ebenbürtig zu sein, während wichtige strategische Entscheidungen getroffen werden. Der Ausschluss der EU aus den Gesprächen in Genf blieb in Brüssel nicht unbeachtet und verstärkte das Argument, dass die Union eine einheitlichere Außen- und Verteidigungspolitik braucht, etwas, das Borrell in der Vergangenheit oft gefordert hatte.
Es ist auch kein Zufall, dass der französische Präsident Emmanuel Macron kürzlich einen EU-weiten "Strategischen Kompass" in diesem Bereich forderte. Macron, dessen Land derzeit den Vorsitz des Europäischen Rates innehat, argumentierte: "Er wird es uns ermöglichen, eine gemeinsame europäische Position innerhalb der NATO einzunehmen und koordinierter zusammenzuarbeiten." Macrons Streben nach militärischer Autonomie, was als erste Stufe auf dem Weg zu seinem ultimativen Ziel einer vollwertigen EU-Armee betrachtet werden kann, hat dabei die Unterstützung der Brüsseler Eurokraten.
Auch die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen sagte:
"Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir in der Frage der Verteidigung in Europa einen Gang höherschalten."
Der neue Auftrieb in der Stärkung der Verteidigung der EU und im Streben nach militärischer Unabhängigkeit ergibt sich aus der Tatsache, dass die USA zunehmend als unzuverlässiger Partner betrachtet werden. Dies ist eine der vielen unbeabsichtigten Folgen von Bidens verpatztem erstem Jahr im Weißen Haus. Wenn die EU dachte, Bidens Einzug ins Weiße Haus würde eine neue goldene Ära der Beziehungen zwischen der EU und den USA einläuten, dann wurde sie von seinen Entscheidungen in seinem ersten Amtsjahr massiv enttäuscht.
In der Außen- und Verteidigungspolitik behandelte der US-Präsident die EU mit – manche würden sagen, verdienter – Verachtung. Dennoch fordern mächtige Stimmen innerhalb der EU jetzt, dass die Union einen unabhängigeren Kurs einschlägt und sich vom US-Einfluss befreit.
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Übersetzt aus dem Englischen.
Paul A. Nuttall ist Historiker, Autor und ehemaliger Politiker. Er war von 2009 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und war ein prominenter Aktivist für den Brexit.
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