Riesige Menschenmengen drängen sich weiterhin vor den Zugängen zum Flughafen Kabul. Die Umgebung sei "unglaublich überfüllt", sagte ein westlicher Diplomat gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Tausende Menschen versuchen weiterhin, in eines der Evakuierungsflugzeuge zu gelangen, um das Land nach der Machtübernahme durch die Taliban zu verlassen. Die Zeit rennt ihnen davon.
Alle US-amerikanischen und verbündeten Truppen sollen das Airport nächste Woche verlassen. Deutschlands Evakuierungsmission soll laut Medienberichten bereits am Donnerstag enden. Übereinstimmend berichten RTL und ntv, dass die letzten deutschen Soldaten am Freitag aus Kabul ausgeflogen werden sollen.
Die USA und ihre Verbündeten haben ihre Staatsbürger aufgefordert, den Flughafen von Kabul wegen der Gefahr eines Terroranschlags des Islamischen Staates zu verlassen. US-Bürger, die sich derzeit am Abbey Gate, East Gate oder North Gate aufhielten, sollten das Gebiet "sofort" verlassen, warnte die US-Vertretung in Kabul. In einer Mitteilung der US-Botschaft heißt es weiter:
"Aufgrund der Sicherheitsbedrohungen vor den Toren des Flughafens Kabul raten wir US-Bürgern, derzeit nicht zum Flughafen zu reisen und die Tore des Flughafens zu meiden."
Auch die deutsche Botschaft in Afghanistan sowie die Vertretung Australiens warnten vor Terrorgefahr rund um den Airport der afghanischen Hauptstadt. Die britische Regierung forderte ebenfalls ihre Bürger in der Nähe des Airports in Kabul dazu auf, sich an einen sicheren Ort zu begeben und auf weitere Anweisungen zu warten.
Bereits am Dienstagabend (Ortszeit) warnte US-Präsident Joe Biden vor einer wachsenden Terrorgefahr am Flughafen in Kabul. Jeder Tag, den man wegen der Evakuierungen länger vor Ort bleibe, sei ein weiterer Tag, an dem ein örtlicher Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) versuche, den Airport anzugreifen, sagte Biden. Es gebe die "akute und wachsende Gefahr eines Anschlags". Der IS-Ableger sei ein erklärter Feind der Taliban, so der US-Präsident. Mit einem Anschlag auf den Flughafen könnten die Terroristen die Glaubwürdigkeit der Taliban als neue Machthaber erschüttern und auch ausländische Truppen treffen, die der Gruppe verhasst sind, so die Logik. Mit Blick auf die Evakuierungen sagte Biden:
"Je früher wir es abschließen, desto besser."
Der Militäreinsatz zum Ausfliegen westlicher Staatsbürger, afghanischer Ortskräfte und anderer Schutzbedürftiger ist von der Präsenz der aktuell rund 6.000 US-Truppen abhängig. Die USA halten jedoch an ihrem Abzug bis zum 31. August fest.
Ein Beamter der afghanischen Zivilluftfahrt, der am Flughafen arbeitet, sagte gegenüber Reuters, dass sich die Menschen trotz der Warnungen vor möglichen Angriffen weiterhin vor den Toren drängen. "Aber die Menschen wollen sich nicht vom Fleck rühren, es ist ihre Entschlossenheit, dieses Land zu verlassen, sie haben nicht einmal Angst zu sterben", sagte er der Nachrichtenagentur.
Die Taliban, die fast alle Landesteile Afghanistans sowie die Hauptstadt Kabul – bis auf den Flughafen – kontrollieren, pochen darauf, dass die Amerikaner wie geplant abziehen.
In den elf Tagen seit dem Einmarsch der Taliban in Kabul haben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten mehr als 85.000 Menschen vom Airport der Hauptstadt ausgeflogen. Allein in den letzten 24 Stunden sollen mehr als 19.000 Menschen aus dem Land gebracht worden sein. Nach Angaben des US-Militärs starten die Flugzeuge etwa alle 39 Minuten. Laut Washington sollen sich noch maximal 1.500 US-Amerikaner in Afghanistan befinden.
Nach Angaben der Bundeswehr ist heute Morgen ein weiteres Flugzeug aus Taschkent Richtung Kabul gestartet, um dort "weitere Schutzsuchende aufzunehmen".
Am Vorabend hatte die Bundeswehr mit dem letzten von mehreren Flügen am Mittwoch 167 Menschen aus der afghanischen Hauptstadt ausgeflogen. "Insgesamt 5.193 Personen konnten seit Beginn der Evakuierungsmission durch die Bundeswehr in Sicherheit gebracht werden – allein gestern waren es 539", schrieb das Verteidigungsministerium am Donnerstag auf Twitter.
"Wir evakuieren bis zur letzten Sekunde."
Die Bundesregierung ist wegen ihrer Fehleinschätzung in Afghanistan massiv unter Druck geraten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am Mittwoch im Bundestag Fehler eingeräumt. Merkel sagte, dass die westlichen Staaten es unterschätzt hätten, wie "atemberaubend schnell die afghanischen Sicherheitskräfte nach dem Truppenabzug ihren Widerstand gegen die Taliban aufgeben".
Für die kommenden Wochen und Monate kam Merkel zu der ernüchternden Erkenntnis, dass man in Afghanistan nun nicht mehr an den Taliban vorbeikomme. "Unser Ziel muss es sein, dass so viel wie möglich von dem, was wir in den letzten 20 Jahren in Afghanistan an Veränderungen erreicht haben, bewahrt wird." Darüber sei auch mit den Taliban zu sprechen. "Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan."
Nachtrag: Zabihullah Mojahed, "Informationsminister" der Taliban, sagte gegenüber russischen Medien, dass die Terrorwarnungen nicht etwa aus der Erkenntnis der westlichen Geheimdienste stammen, sondern dass die Taliban die in Kabul noch operierenden Länder über diese Möglichkeit informiert hätten. Es gäbe aber keine konkrete oder akute Hinweise auf einen bevorstehenden Terroranschlag, so Mojahed. Stattdessen könnte jemand versuchen, auf die wartenden Menschen vor dem Flughafen zu schießen oder eine Bombe zünden, um die Taliban dadurch zu diskreditieren.
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(rt/reuters /dpa)