Die Taliban haben den Krieg in Afghanistan für beendet erklärt. Doch in einem abgelegenen Tal nördlich der Hauptstadt Kabul droht neues Blutvergießen, nachdem ein trotziger lokaler Kriegsherr und dorthin geflohene ehemalige afghanische Regierungssoldaten ein Ultimatum der Taliban abgelehnt hatten.
Die Eroberung Afghanistans durch die Taliban im Laufe des Augusts verlief blitzschnell – und in einigen Städten und Provinzen fast völlig ohne Blutvergießen. Die von den USA unterstützten afghanischen Streitkräfte fielen vor den heranrückenden islamistischen Kämpfern wie ein Kartenhaus zusammen. Afghanistans Hauptstadt Kabul fiel Wochen bis Monate früher in die Hände der Taliban, als dies die US-amerikanischen Behörden für möglich gehalten hätten.
Ein Teil des Landes bleibt jedoch außerhalb der Kontrolle der Taliban. Das Pandschir-Tal, das etwa 150 Kilometer nördlich von Kabul liegt, ist durch Berge abgeschottet und bietet Eindringlingen nur einen einzigen Zugang – durch eine enge Flussschlucht. Pandschir ist leicht zu verteidigen, und hier hat der Warlord Ahmad Massoud Kämpfer versammelt, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen wollen.
Die Bewohner des Tals sind größtenteils tadschikischer Abstammung, während die Taliban überwiegend der paschtunischen Volksgruppe angehören.
Massoud hat die Tadschiken unter der Fahne seiner Nationalen Widerstandsfront (NRF) versammelt, einer Umwandlung der Nationalen Einheitsfront (Nordallianz), die von seinem Vater Ahmad Schah Massoud, einem Mudschahedin-Kämpfer und Nationalhelden, angeführt wurde. Die Nordallianz wurde in den 1980er Jahren von den USA in ihrem Kampf gegen die Sowjetunion unterstützt, und Schah Massoud gelang es, nach dem Abzug der Sowjets aus Afghanistan einen Posten als Verteidigungsminister zu erringen. Doch in dieser Position blieb er nicht lange, denn die Taliban übernahmen die Macht und Schah Massoud wurde im Jahr 2001 ermordet.
In der vergangenen Woche hatte sein Sohn nun auch ehemalige afghanische Funktionäre in seinem Tal willkommen geheißen. Der abgesetzte Vizepräsident Amrullah Saleh und der ehemalige Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi fanden bei der Nordallianz Zuflucht, ebenso wie Soldaten der afghanischen Streitkräfte und Spezialeinheiten, die sich geweigert hatten, sich zusammen mit ihren Kameraden den Taliban zu ergeben.
Auf den jüngsten Videos in den sozialen Medien sind etwa Kolonnen von Männern und Fahrzeugen mit Flaggen der Nordallianz bei Ankunft im Tal zu sehen. Auch Fotos, die von Befürwortern der Allianz gepostet wurden, zeigen Kämpfer, wie sie sich mit Übungen und Manövern auf den Kampf vorbereiten.
Der ehemalige Verteidigungsminister Mohammadi behauptete am Samstag in einem Tweet, Massouds Kämpfer hätten mehrere Bezirke in der Nachbarprovinz Baghlan, im Norden des Landes, erfolgreich von den Taliban zurückerobert, und erklärte: "Der Widerstand lebt noch."
Die Taliban rücken jedoch immer näher an die Pandschir-Provinz heran und bringen amerikanische Waffen und Fahrzeuge mit, die sie nach dem Abzug der USA erbeutet hatten. Die NRF ihrerseits stützt sich – abgesehen von einigen US-Waffen, die die Soldaten der afghanischen Armee mitgebracht hatten – auf ältere Bestände an sowjetischem Kriegsmaterial. In einem jüngst veröffentlichten Gastbeitrag für die Washington Post schrieb Massoud, dass seine Kämpfer über "Munitions- und Waffenvorräte verfügen, die wir seit den Tagen meines Vaters geduldig gesammelt haben", und bat gleichzeitig um Lieferungen aus den USA und Europa.
Massoud flankierte sein Plädoyer mit dem Versprechen, sich für die Rechte der Frauen und die Pressefreiheit einzusetzen – alles Anliegen, die im Westen populär sind –, doch bislang sind keine Lieferungen auf dem Weg. Unterdessen berichtet die Nachrichtenagentur Reuters am Sonntag, dass Massouds Truppen damit beschäftigt sind, Fahrzeuge zu reparieren, die die Sowjets vor mehr als drei Jahrzehnten zurückgelassen hatten.
Berichten zufolge hatten die Taliban-Kommandeure Massoud eine Frist bis Sonntagabend gesetzt, sich zu ergeben. Der Militärführer ist jedoch nicht bereit zu kapitulieren. Er will stattdessen über eine "umfassende Regierung" für Afghanistan verhandeln, in der die Taliban die Macht mit anderen teilen, berichtet der arabischsprachige Nachrichtensender Al-Arabiya. Sollten die islamistischen Kämpfer den Dialog verweigern, wäre ein Krieg "unvermeidlich", zitierte der Sender den 32-Jährigen.
Sollten Gefechte ausbrechen, sind Massouds Kämpfer den Taliban zahlen- und waffenmäßig unterlegen. Das Terrain des Pandschir-Tals mag den Verteidigern Vorteile bringen, doch erschwert zugleich die Versorgung mit Nachschub.
Obwohl Massouds Widerstand in den westlichen Medien als Hoffnungsschimmer nach dem peinlichen Rückzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan gepriesen wurde, ist die Lage vor Ort nicht gerade günstig für den Anti-Taliban-Kriegsherrn. In einem Gespräch mit Reuters am Freitag bezeichnete der russische Botschafter in Afghanistan, Dmitri Schirnow, den Widerstand im Pandschir-Tal als zum Scheitern verurteilt. So sagte er:
"Sie haben keine Aussicht auf militärische Erfolge. Es gibt dort nicht viele Menschen. Soweit wir wissen, haben sie 7.000 bewaffnete Leute. Und sie haben bereits Probleme mit dem Treibstoff. Sie haben versucht, einen Hubschrauber zu fliegen, aber sie haben kein Benzin und keine Vorräte."
Man könne die Realität nicht beiseiteschieben. Die Taliban seien "de facto die Machthaber", ergänzte Schirnow. "Es gibt keine Alternative zu den Taliban in Afghanistan."
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