Die Tatsache, dass die US-Amerikaner in Afghanistan mit den erklärten Vorhaben gescheitert sind, die Taliban zu besiegen und eine starke Demokratie aufzubauen, beweist: Entgegen gängigen Vorstellungen des kollektiven Westens teilt eben nicht jeder auf der Welt diese Ideologie; und ebensowenig wünscht sich alle Welt, an idealistischen politischen Experimenten zwangsbeteiligt zu werden. Dies äußerte sinngemäß niemand anderer als Alexei Arestowitsch, ein leitender Berater von Andrei Jermak, dem Stabschef des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij. Dieser Einsicht stellte der als Sprecher der ukrainischen Delegation bei der trilateralen Kontaktgruppe zum Donbass tätige Arestowitsch allerdings weitere Thesen an die Seite – die eine nun vielleicht entstandene Hoffnung, die Politiker des Landes hätten endlich zur langfristigen Realpolitik gefunden, durchaus erheblich dämpfen. Seinen Beitrag veröffentlichte Arestowitsch auf Facebook.
"Die Ereignisse in Afghanistan sind der Zusammenbruch der Doktrin einer 'liberalen Demokratie für alle, die im Jahre 1991 gesiegt und die Geschichte beendet hat'."
Mehr noch, die besagten liberalen Demokratien "vernichten Menschen, Staaten und Institute kein Stück weniger erfolgreich im Vergleich zu totalitären Regimes, die sie angeblich bekämpfen." Darum seien auch ähnliche Versuche in der Ukraine zum Scheitern verurteilt und gänzlich sinnfrei.
"Wie sich (urplötzlich) herausstellte, ist die reale Welt für idealistische Experimente zur Unifizierung aller gemäß einem einheitlichen idealen Konzept schlecht geeignet. Erst durfte die UdSSR dies feststellen; nun die USA an der Spitze des kollektiven Westens.[…] Fans eines Weltbilds, in dem die ganze Menschheit wie ein Mann sich Netflix und LGBT-Prides wünscht, sind sich sicher und versuchen alle zu überzeugen (und werden dies auch künftig): Afghanistan sei nur ein nichtsystemischer Programmfehler, wie früher oder später einer zu erwarten gewesen sei – und die Bewegung der Welt gen Demokratie der einzige, alternativlose Weg, bei dessen Befolgung man schlicht alle aus den Universitäten rausschmeißen und aus der Welt bomben muss, die einen Zweifel an der Wahrheit der einzig wahren Lehre wagen – einer einzig wahren Lehre in einer langen Reihe."
Daher, so Arestowitsch, drängt sich die Frage auf, wie bald der Westen sich seines Irrtums zu diesem Thema bewusst werde und welcher Preis für diese Erkenntnis zu zahlen sein werde.
Experten halten derartige Äußerungen für ein Anzeichen, dass die ukrainische politische Elite von der US-Politik enttäuscht ist – verfolgt diese doch zuallererst stets US-Interessen.
Es sei daran erinnert: Nachdem die USA den Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan angekündigt hatten, begannen die Taliban eine groß angelegte Offensive. Infolgedessen geriet der Großteil des Landes alsbald unter die Kontrolle der radikalislamischen Bewegung: Am 15. August zogen die Taliban in Kabul ein und erklärten kurzerhand das Ende des Krieges. Der bisherige Präsident Aschraf Ghani floh aus dem Land.
Dabei hatten die USA bis zuletzt darauf beharrt, dass das offizielle Kabul sich gegen die Taliban auch ohne die unmittelbare Unterstützung Washingtons erfolgreich zur Wehr setzen könne und werde. Nach dem Zusammenbruch der politischen Führung Afghanistans erklärte US-Präsident Joe Biden jedoch, dass der Aufbau einer "geeinten zentralisierten Demokratie" in der Republik nie das Ziel der Vereinigten Staaten gewesen wäre. Washingtons Mission habe vielmehr nur zwei Ziele gehabt: die Verantwortlichen für die Anschläge vom 11. September 2001 zu finden und zu bestrafen und sicherzustellen, dass Al-Qaida Afghanistan nicht als Ausgangspunkt für künftige Angriffe auf die Vereinigten Staaten nutzen kann.
"Niemand wird die Interessen der Ukrainer verteidigen"
Es lohnt sich der Hinweis: Dies ist beileibe nicht das erste Mal, dass sich ukrainische Politiker und Experten in solcher Weise über die Aussichten der Beziehungen zwischen Washington und Kiew im Lichte der Ereignisse in Afghanistan äußern. Eine ähnliche Sichtweise wie Arestowitsch legte zuvor der Leiter der politischen Programme des ukrainischen Instituts für Zukunftsforschung Juri Romanenko in seiner Kolumne im Blatt Glawred (dt.: "Chefredakteur") dar. Ihm zufolge hätten die USA der Ukraine in der Situation mit Kabul eine "grimmige Lehre" erteilt:
"Die Tragödie von Afghanistan zeigt – wenn ein Verbündeter nicht bereit ist, für sich selbst zu kämpfen, lassen sich auch die US-Amerikaner nicht gerade aus lauter Bemühungen um diesen Verbündeten ins Schwitzen bringen."
Er merkte ferner an, dass Afghanistan selbst dessen Status eines "wichtigen nicht-NATO-Verbündeten der Vereinigten Staaten" (um den auch Kiew sich so sehr bemüht) nicht geholfen hat. Sogar dann, wenn die Ukraine einen solchen Status erhalte, so Romanenko weiter, bedeute dies nicht, dass "die USA sich für sie gerademachen würden", wie viele ukrainische Politiker dies bisher erwarten.
Zur Erinnerung: Derzeit beteiligt sich die Ukraine lediglich am NATO-Programm Enhanced Opportunity Partner (einen ähnlichen Status haben etwa Australien und Finnland, aber auch Schweden oder sogar Georgien. Dieser Status wurde der Ukraine im Sommer 2020 gewährt). Gleichzeitig erwartet Kiew, dass das Nordatlantische Bündnis weitere Schritte unternimmt zur Erarbeitung eines Aktionsplans für die NATO-Mitgliedschaft (Membership Action Plan: MAP), der NATO-Anwärter auf ihren Beitritt zum Block vorbereitet.
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Indes hat man es bei der NATO damit jedoch offenbar nicht allzu eilig. Insbesondere NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wies darauf hin, dass die Ukraine mehr Anstrengungen bei der Umsetzung ihrer Reformen unternehmen müsse. Er erinnerte in diesem Bezug daran, dass die Bereitstellung eines MAP nur mit dem Konsens aller 30 Mitgliedsländer der NATO möglich ist. Diese aber sind nicht alle bereit, dem Wunsch der ukrainischen Regierung nachzukommen. So erklärte die Sprecherin der Bundesregierung Ulrike Demmer im April, dass derzeit keine weiteren Schritte in Richtung einer NATO-Mitgliedschaft für Kiew vorgesehen seien – die russische SNA zitierte:
"Wie Sie wissen, verfolgt die NATO bei der Aufnahme neuer Mitglieder grundsätzlich eine Politik der offenen Tür. Die Ukraine hat das Recht der freien Wahl und ihre politischen Bedürfnisse. Allerdings stehen weitere Schritte zu einer Mitgliedschaft derzeit nicht an."
Angesichts der jüngsten Entwicklungen erklärte eine anonyme Quelle von RT in der ukrainischen Regierungspartei "Volksdiener", dass dies, was sich gerade in Afghanistan abspielt, ein Paradebeispiel dafür sei, wie es kommt, wenn man alle "Forderungen von oben" zu erfüllen versucht, anstatt eine eigene Politik aufzubauen:
"Niemand wird die Interessen der Ukrainer verteidigen – und im Falle eines Falles werden die US-Amerikaner sagen, dass es unsere Schuld ist. Und hier stellt sich als Hauptfrage, ob die ukrainischen Eliten bereit sind, erwachsen zu werden und Verantwortung für die Zukunft des Landes zu übernehmen – auch für unpopuläre Entscheidungen."
In der ukrainischen "Vaterlandspartei" (Batkiwschtschina) sagte man gegenüber RT voraus, dass nach den Videoaufnahmen von Afghanen, die sich an Fahrwerke abfliegender US-Flugzeuge klammern, die Lust ukrainischer Nationalisten am Umsetzen gewaltsamer Szenarien für eine "Rückkehr" der Krim und des Donbass einen deutlichen Dämpfer erfahren haben dürfte:
"In der ukrainischen Gesellschaft hat Hysterie die Oberhand gewonnen, alle beobachten, was in Afghanistan passiert. Was sehen wir? Wie die USA ihre Anhänger am Flughafen im Stich gelassen haben und wie Menschen sich an das Fahrwerk eines Flugzeugs klammern und um ihr Leben kommen. Ich denke, dass nach solchen Bildern der Wunsch der ukrainischen Nationalisten, die Krim und den Donbass mit Gewalt zu erobern, deutlich nachgelassen hat. Denn [in ihrem Fall] könnte es sein, dass sie nirgendwohin mehr fliehen können."
Bei einem Gesprächspartner von RT im ukrainischen Verteidigungsministerium wiederum warfen vor allem die US-Methoden zur Ausbildung ausländischer Streitkräfte sowie ihre Aufklärung und Kriegsführungstaktiken Fragen auf – und infolgedessen auch das Verhalten der Regierung in Kiew:
"All dies wirft eine Menge Fragen an die ukrainische Führung auf – und an ihre Strategie, sich in allen Belangen auf die US-Amerikaner zu verlassen."
Ebenfalls im Zusammenhang der jüngsten afghanischen Ereignisse deutete eine Quelle von RT im Präsidialbüro von Wladimir Selenskij an, dass sich die Rhetorik des ukrainischen Präsidenten bei seinem Treffen mit US-Staatschef Joe Biden ändern könne:
"In der Entourage des ukrainischen Staatsoberhaupts hat man erkannt, dass im Falle eines Krieges mit Russland auf breiter Front niemand der Ukraine helfen wird. Die US-Amerikaner werden in aller Eile Reißaus nehmen, aber diesmal bereits vom Flughafen Borispol."
Analytiker werten die Reaktion der ukrainischen politischen Eliten auf die Situation in Afghanistan so, dass Kiew wieder einmal gesehen habe, wie die USA immer nur in ihrem eigenen Interesse handeln und sich nicht einen Deut um ihre erklärten Verbündeten kümmern. Wladimir Olentschenko, leitender Wissenschaftler am Zentrum für Europäische Studien des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, fasste im Gespräch mit RT zusammen:
"Die Ukraine ist für die US-Regierung nur insofern von Interesse, als sich aus der Zusammenarbeit mit Kiew Profit schlagen lässt – insbesondere durch den Verkauf von Produkten des militärisch-industriellen Komplexes der USA, in Form vorübergehender oder ständiger Stationierung von US-Militäreinheiten und durch Nutzung der ukrainischen Industrie und Volkswirtschaft."
Für die Bedürfnisse des innenpolitischen Kampfes
Doch dass die politische Elite in Kiew langfristige Konsequenzen aus dieser durchaus nicht neuen Erkenntnis zieht, deren Richtigkeit durch die jüngsten Ereignisse lediglich gegenständlich vorgeführt wurde, scheint keiner der befragten Analytiker zu erwarten. Stattdessen würden nur taktische Anpassungen der innenpolitischen Schwerpunkte vorgenommen werden; als das höchste der Gefühle wären allenfalls Annäherungen an europäische Mächte zu erwarten – und auch diese nur kurzfristig, zumal dafür, um die Aufmerksamkeit des US-Establishments wiederzuerlangen. So stellte Olentschenko die Prognose auf, dass das Ergebnis des US-Einsatzes in Afghanistan nun sehr wohl von ukrainischen Politikern aktiv genutzt werden wird, um sich gegenseitig zu bekämpfen:
"Der Faktor Afghanistan wird von den ukrainischen Eliten im parteiinternen Kampf aktiv genutzt werden, um ihre Positionen zu verbessern. Auch werden zum Beispiel Gegner der Präsidialadministration Selenskij für seine Nähe zu den USA kritisieren, weil diese eine schlecht durchdachte Außenpolitik betreiben."
Gleichzeitig jedoch ist sich der Politologe sicher, dass sich die Ukraine etwa in ihrem Streben nach einem NATO-Beitritt nicht vom Beispiel Afghanistans beeinflussen lassen wird.
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Sein Kollege an der Moskauer Wirtschaftshochschule, der Politologe Andrei Susdalzew, vertrat im Gespräch mit RT denselben Standpunkt: Kiew lebe "in einem eigenen geopolitischen Format", formulierte Susdalzew etwas schonend.
"Die Regierung in Kiew glaubt naiverweise, dass die USA ihnen gegenüber anders eingestellt sind, dass sie sie in einem kritischen Moment nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden. Sie sind sich jedoch nicht gänzlich im Klaren darüber, dass die Regierung in Washington einen völlig anderen Ansatz gegenüber ihren Partnern hat."
Dabei sei es möglich, so Wladimir Olentschenko, dass die ukrainischen Politiker angesichts des afghanischen Szenarios durchaus darüber nachdenken werden, andere außenpolitische Partner zu suchen – aber eben nur, um sich bei den US-Eliten gewissermaßen mittels provozierter Eifersucht besser zu vermarkten:
"Es ist nicht auszuschließen, dass ukrainische Politiker versuchen werden, sich mit ihren Äußerungen über das Versagen der USA im Vorfeld von Merkels Besuch in Kiew und Selenskijs Reise in die USA teurer zu verkaufen. Offensichtlich zeigen sie auf diese Weise der US-Seite, dass sie eine bessere Behandlung erwarten."
"Kampf um Bau der Demokratie in der Ukraine sinnlos – lieber gleich eine neue Zivilisation"
Dieses mindestens inkongruent anmutende Nebeneinander eines informierten Pessimismus, der auf tagesaktuellen Tendenzen gründet, und eines langfristigen Optimismus, der diese Tendenzen schlichtweg inkonsequent ignoriert, scheint also in der ukrainischen Politiklandschaft eine typische Haltung zu sein. Dafür liefert der eingangs thematisierte Alexei Arestowitsch vielleicht das beste Beispiel. Denn in selbigem Beitrag, in dem er den krachenden Zusammenbruch der idealistischen liberaldemokratischen Doktrin des Westens festhält, stellt der Funktionär der Selenskij-Regierung zwar nicht nur die Fähigkeit des Westens zur Voraussicht infrage, sondern auch die Konzepte der aktuellen Weltordnung, der Globalisierung und sogar des technischen Fortschritts. Doch nachdem er von diesem philosophischem Höhenflug aus alldem ableitet, "ein Kampf für den Aufbau eines neuen demokratischen Staates in der Ukraine" habe "keinen Sinn", flüchtet sich der ukrainische Vertreter in der Donbass-Kontaktgruppe gleich in die Offensive, die angesichts des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ruins in der Ukraine wie reiner Hohn klingt:
"Wenn überhaupt für irgendetwas kämpfen, dann gleich für den Aufbau einer neuen Zivilisation, die erfolgreich die obigen Fragen beantworten können wird – in der Praxis."
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