Der Eklat um die weißrussische Athletin Kristina Timanowskaja droht zu einem zweiten "Fall Protassewitsch" zu werden. Ende Mai hat die international breit ausgewalzte Affäre um eine angebliche Flugzeugentführung innerhalb weniger Tage zu Wirtschaftssanktionen gegen Weißrussland geführt, ohne dass die Internationale Luftfahrtbehörde ICAO die Schuldfrage je klären konnte.
Wieder einmal wird der Ton westlicher Politiker gegen die weißrussischen Behörden schärfer. Erneut ist die Rede von einer angeblichen Entführung und man fordert die sofortige Suspendierung des weißrussischen Nationalen Olypischen Komitees (NOK). Rob Koehler, der Generaldirektor des Verbandes Global Athlete, sagte im kanadischen Fernsehen: "Das IOC sollte das Weißrussische Olympische Komitee sofort suspendieren und allen Sportlern aus Weißrussland erlauben, als neutrale Athleten unter der olympischen Flagge zu starten."
Auch Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kritisierte die Spitze der weißrussischen Regierung um Präsident Alexander Lukaschenko scharf. Er forderte, die "Aggression der weißrussischen Sicherheitsdienste auf japanischem Gebiet" müsse auf "entschiedenen Widerspruch der internationalen Gemeinschaft stoßen".
"Die Machthaber in Minsk haben mit der versuchten Verschleppung von Kristina Timanowskaja gezeigt, dass sie ihre eigenen Sportlerinnen und Sportler – und damit auch die olympischen Prinzipien – verachten", sagte Bundesaußenminister Heiko Maas der Rheinischen Post. Das Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko sei politisch und moralisch bankrott.
Doch die Gespräche mit dem Haupttrainer und Vertretern des weißrussischen NOK sowie Sportlern und Mitarbeitern des weißrussischen Leichtathletikteams zeichnen ein anderes Bild.
Von Missverständnis bis zum Asylantrag
Am Samstag stellte Kristina Timanowskaja ein Video ins Internet, in dem sie die Teamleitung und indirekt den Haupttrainer der Leichtathletikmannschaft Juri Moissewitsch verbal scharf angriff. Später entfernte sie das Video. Ihr Vorwurf: Die Teamleitung habe die Anmeldung zweier Sportlerinnen für den 4x400-Meter-Staffellauf verpfuscht und sie ohne ihr Wissen für diesen Lauf angemeldet.
In Timanowskajas Heimat sorgte dies in den Medien für eine scharfe Reaktion. Während Moissewitsch im weißrussischen Fernsehen erklärte, dass das Problem mit dem Nicht-Erscheinen der vorgesehenen Athletinnen auf dem für Weißrussland komplizierten Anti-Doping-Verfahren basierte, warfen viele Kommentatoren, darunter auch ehemalige Sportler, Timanowskaja Verrat und mangelnden Teamgeist vor. Die Teamleitung bescheinigte der Sportlerin daraufhin einen "instabilen psychisch-emotionalen" Zustand, meldete sie von der weiteren Teilnahme ab und organisierte ihren Rückflug nach Minsk für den 1. August. Sie sollte zusammen mit den anderen Sportlern fliegen, die ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen bereits beendet hatten.
Nach Angaben der Pressesprecherin des weißrussischen NOK ist Timanowskaja nicht zum Bustransfer zum Flughafen erschienen. "Aus einem unbekannten Grund verpasste Kristina den Bus, der die Sportler zum Flughafen bringen sollte. Die Mitglieder der nationalen Delegation, insbesondere das Verwaltungspersonal unserer Zentrale, beschlossen, Kristina in einem separaten Fahrzeug zum Flughafen zu bringen."
Dabei wurde die Sportlerin nach eigenen Angaben von zwei Personen begleitet. Dies nahm sie offenbar als Bedrohung wahr, denn später behauptete sie, dass sie gegen ihren Willen nach Weißrussland hätte zurückkehren sollen. Das NOK erklärte dazu: "Bei ihrer Ankunft am Flughafen machte Kristina Videoaufzeichnungen von ihren Begleitern. Als sie den ersten Polizeibeamten am Flughafen bemerkte, zeigte sie ihm das Video von ihren Begleitern, welches darauf hingedeutet haben soll, dass sie von KGB-Beamten begleitet worden sei, wie sie in ihrer Aussage betonte. Obwohl diese Angestellte des NOK und des Verwaltungspersonals unserer Zentrale waren".
Im Flughafen bat Timanowskaja in einem in sozialen Medien geteilten Kurzvideo das IOC um Hilfe, da versucht werde, sie "ohne ihr Einverständnis außer Landes zu bringen". Kurze Zeit später fügte sie in einem Interview hinzu: "Ich habe Angst, dass ich in Weißrussland inhaftiert werden könnte. Ich mache mir Sorgen um meine Sicherheit. Ich werde um Asyl bitten."
Ab diesem Moment bekommt der Skandal eine internationale Tragweite. Ein Vorfall, der mit einem Missverständnis aufgrund einer mangelhaften Kommunikation begann, endet mit einem Asylantrag.
Alles ein Hirngespinst?
Die weißrussische Weitspringerin Anastasia Mirontschik-Iwanowa sagte in einem Gespräch mit RT, dass sich Timanowskaja im Team unkooperativ verhalten habe. In den letzten Tagen habe sie weder den Teamsitzungen noch an gemeinsamen Feierlichkeiten, nachdem ein weißrussischer Sportler Gold gewonnen hatte, teilgenommen und den Kontakt mit Kollegen und Trainern gemieden.
"Aber wir haben gesehen, wie sie sich in den sozialen Medien verhält. Langsam zeichnet sich ein Bild ab. Dies ist keine sehr angenehme Geschichte. Leider könnte der Skandal ein schlechtes Licht auf Weißrussland, unsere Athleten und die Zukunft der Leichtathletik im Land im Allgemeinen werfen."
Nach Meinung der Teamkollegin könnten alle Differenzen in einem Gespräch mit dem Haupttrainer geklärt werden, er sei immer offen und erreichbar. Timanowskajas Angst vor einer Verfolgung in Weißrussland könne sie nicht nachvollziehen. "Wofür sollte man sie inhaftieren? Was hat sie verbrochen? Wir haben keine Gesetze, die Kritik an der Sportföderation mit Haft bestrafen." Wahrscheinlich habe sich in Kristina bereits zuvor etwas zusammengebraut, so Mirontschik-Iwanowa.
Mirontschik-Iwanowa hofft auf eine Untersuchung, um die Lügen aus der Welt zu schaffen. "Wir müssen Kristina und ihren Anwalt anhören. Unser Vertreter und der Vertreter des IOC sollen dabei sein. Glauben Sie mir, niemand hat Timanowskaja je etwas angetan, niemand wollte sie hinter Gitter bringen. Das sind alles Fakes in Kristinas Kopf". Die Athletin betonte:
"Begleiten und Festhalten sind zwei verschiedene Dinge. Am Sonntag kehrte eine Delegation von Athleten, die bereits an den Olympischen Spielen teilgenommen hatten, nach Weißrussland zurück. Kristina sollte in Begleitung des NOK-Personals mit ihnen fliegen. Niemand hat sie an den Armen gepackt, wie in den Videoaufnahmen am Flughafen deutlich zu sehen ist."
Die Weitspringerin ist nicht allein mit ihrer Kritik. Hochspringer Maxim Podasekow, der in Tokio Bronze gewann, sieht das Problem vor allem in Timanowskajas Arroganz. Nach Angaben der weißrussischen Medien soll er über sie in einem Interview gesagt haben: "Ich mag diese Person nicht. Sie verhält sich arrogant gegenüber dem Team und der Leitung. Ich denke, die Reaktion war angemessen. Sie redet viel, aber man muss die Verantwortung für seine Worte übernehmen."
Fast die Hälfte der Teamkollegen habe Verständnis für Kristina, erklärte ihr Ehemann Arseni Sdanewitsch in einem Fernsehinterview. Ähnlich schätzt Mirontschik-Iwanowa die Stimmungslage im Team ein und wünscht eine ehrliche Aufklärung in der Sache. Allerdings ist zu erwarten, dass nach all dem politischen Druck vonseiten westlicher Staaten und Sportverbänden die Hoffnungen auf objektive Untersuchung des Skandals durch das IOC eher gedämpft werden.
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