Das Europäische Parlament hat am Dienstag ein umstrittenes Gesetz gebilligt, das es Kommunikationsdienstleistern für die nächsten drei Jahre erlaubt, ihre Plattformen nach explizitem Material zu sexuellem Missbrauch von Kindern zu durchsuchen und zu melden, ohne dass sie dadurch in Konfrontation mit europäischen Datenschutzgesetzen geraten. Außerdem können digitale Unternehmen zugelassene Technologien zur Erkennung von sogenannten Grooming-Techniken einsetzen.
Laut der Europäischen Kommission wurden im vergangenen Jahr fast vier Millionen Bilder und Videos mit Kinderpornografie gemeldet. Die Problematik hat sich laut Europol während der Corona-Krise verschlimmert, wie Euractiv berichtet.
Bei der Abstimmung standen die Europäische Kommission, die den Gesetzesentwurf vorgeschlagen hatte, und Kinderrechtsaktivisten europäischen Datenschutzbehörden gegenüber, die befürchten, dass der Gesetzesentwurf die Datenschutzbestimmungen der EU untergräbt und gleichzeitig nicht zielführend ist. Laut dem Abstimmungsergebnis stimmten 537 Abgeordnete für den Gesetzesentwurf, 133 dagegen und 24 enthielten sich. Kritiker warnen, dass die Regeln "rechtlich fehlerhaft" seien. Abgeordnete prangerten zudem den Druck in Form "moralischer Erpressung" auf sie an, dem Gesetz zuzustimmen.
"Wann immer wir kritische Fragen zu den Gesetzesvorschlägen stellten, wurde sofort der Eindruck erweckt, dass ich mich nicht ausreichend für den Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch engagiere", beklagte die niederländische Abgeordnete Sophie in 't Veld einen Tag vor der Abstimmung.
Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, gab vor der Präsentation der Regelung im EU-Parlament bereits am Montag zu bedenken, dass die Lösung nicht die Ursachen behebe und das Problem selbst bestehen bleibe.
"Diese Übergangsregelung beendet die Unsicherheit für Unternehmen. Sie beendet aber nicht die Gefahr für Kinder. Sie ist nur eine vorübergehende Lösung, um eine akute Notlage zu beheben. Wir brauchen eine dauerhafte Antwort, um dieser anhaltenden Bedrohung für Kinder zu begegnen."
Der temporäre Gesetzesentwurf soll eine Zwischenlösung bieten, bis neue permanente Regeln in Kraft sind. Die Mitte-links-Abgeordnete Birgit Sippel, die an dem Gesetzesentwurf mitgearbeitet hat, sagte: "Es gab eine Menge Druck, etwas sehr, sehr schnell zu tun und zu einer Einigung zu kommen." Unter anderem hatten sich laut Politico britische, kanadische und amerikanische Minister – sowie der US-Schauspieler Ashton Kutcher, der auch ein Aktivist für Kinderrechte ist – eingemischt und das EU-Parlament gedrängt, den Gesetzesentwurf zu verabschieden.
Der Informatiker und Datenschutzexperte Alexander Hanff, der selbst als Kind sexuellem und körperlichem Missbrauch ausgesetzt war, hat die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Ausnahmeregelung seit Langem stark kritisiert und gewarnt, sie werde "nicht verhindern, dass Kinder missbraucht werden. Sie wird den Missbrauch nur weiter in den Untergrund treiben, es immer schwieriger machen, ihn aufzudecken. Das kann letztendlich dazu führen, dass mehr Kinder missbraucht werden".
Durch die Untergrabung von Grundrechten der Europäischen Grundrechtecharta, und damit unter anderem dem Recht auf Privatsphäre und auf Vertraulichkeit in der Kommunikation, würden laut Hanff Missbrauchsopfer einem noch größeren Trauma, einer noch stärkeren Einschränkung ihrer Rechte und einer Entmenschlichung ausgesetzt. Weiterhin werde so auch die Forschung dazu wie auch die Arbeit von Hilfsdiensten verhindert.
"Es ist nicht angemessen, es ist nicht geeignet und ich würde behaupten, dass es nicht einmal nach europäischem Recht anwendbar ist", so Hanff in einem Interview mit dem Humanistischen Pressedienst.
Laut Diego Naranjo, dem politischen Leiter von European Digital Rights (EDRi), werde so ein Anreiz für Big Tech geschaffen, Verschlüsselungsverfahren zu brechen oder nicht zu entwickeln. Unternehmen würden dazu verleitet, private Kommunikation zu durchkämmen.
Im Mai präsentierte Nordrhein-Westfalens Justizminister Peter Biesenbach (CDU) einen von Microsoft mit entwickelten Prototyp, der anhand von Künstlicher Intelligenz Beweismittel aus Datensätzen herausfiltert, um Täter zu finden und so schneller festsetzen zu können. Ohne Künstliche Intelligenz sei der schieren Datenflut im Bereich Kinderpornografie und Kindesmissbrauch nicht mehr Herr zu werden, so der Justizminister. Der Datenschutz sei gewährleistet, da die Beweismittel nur unter der Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden stünden.
Bei der hessischen Polizei wird im Zusammenhang mit rechtsextremen Chats auch wegen des Anfangsverdachts der Kinderpornografie ermittelt. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) erklärte im Innenausschuss des Landtags in Wiesbaden, dass in einer der Chatgruppen Inhalte geteilt worden seien, bei denen sich dieser Verdacht ergeben habe. Ausgangspunkt der Ermittlungen wegen rechtsextremer Chats war ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Mainz gegen einen 38-Jährigen aus Rheinland-Pfalz, der zuletzt beim SEK Frankfurt eingesetzt war. Dem Mann werden unter anderem der Besitz und die Verbreitung kinderpornografischer Schriften zur Last gelegt. Bei der Auswertung seiner Mobiltelefone stießen die Ermittler auf die Chatgruppen.
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