Laut aktuellen Informationen unterstützt die US-Administration die Forderung nach einer Aussetzung des Patentschutzes für Corona-Impfstoffe. In einer Erklärung teilte die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai mit, dass "besondere Umstände besondere Maßnahmen" erforderten. Auf Twitter fügte sie hinzu:
"Die USA unterstützen die Aufhebung des IP-Schutzes für COVID-19-Impfstoffe, um die Pandemie zu beenden, und wir werden aktiv an den WTO-Verhandlungen teilnehmen, um dies zu erreichen."
Konkret handelt es sich um eine "temporäre Aufhebung". Die US-Regierung glaube zwar "fest an den Schutz geistigen Eigentums", würde aber nun einen Verzicht auf die entsprechenden Regeln für COVID-19-Impfstoffe unterstützen.
Nun gelte es, "so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen". Bislang hatten sich auch unter anderem Kanada, Großbritannien, die EU und die Schweiz zuvor strikt gegen eine Ausnahmeregelung beim Patentschutz ausgesprochen. Zwar hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel schon Mitte 2020 von einem "globalen Gut" gesprochen, doch auch die Bundesregierung hatte sich nicht für eine Modifizierung des Patentschutzes auf Corona-Vakzine eingesetzt. Der oftmals kritisierte "Impfnationalismus" auch der USA kann laut Tai jetzt beendet werden. Erst jetzt sei die Zeit reif, auch andere in den Genuss der Corona-Vakzine kommen zu lassen.
"Da die Impfstoffversorgung des amerikanischen Volkes gesichert ist, wird die Regierung ihre Bemühungen weiter verstärken – in Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor und allen denkbaren Partnern –, um die Impfstoffherstellung und -verteilung zu erweitern."
Die US-Ankündigung erfolgte am Mittwoch, dem ersten Tag einer zweitätigen Sitzung des Allgemeinen Rates der Welthandelsorganisation (WTO) mit Sitz in Genf. Bislang weigerten sich auch die USA, den Forderungen von Ländern wie Südafrika oder Indien nach einer Lockerung des Patentschutzes nachzukommen, um selbst generische Versionen der COVID-19-Impfstoffe zu produzieren. 98 weitere Staaten hatten sich der Forderung der beiden BRICS-Staaten angeschlossen. Auch 175 ehemalige Staats- und Regierungschefs sowie Nobelpreisträger stellten sich hinter den Antrag.
Nach der Aussage Tais gaben die Kurse der Pharmaunternehmen teilweise massiv nach. Die in Frankfurt notierten Aktien des Boten-RNA-Impfstoffherstellers BioNTech fielen am Donnerstag um 14 Prozent, während Moderna und Novavax am Mittwoch in New York Kursverluste zwischen 3 und 6 Prozent verzeichneten. Der US-Branchenprimus musste einen Kursverlust von 3 Prozent einstecken. Es waren dann auch die Pharmaunternehmen, die sich nun vehement gegen den Vorstoß aussprachen.
Der Vorstoß Bidens ist daher auch keinesfalls unumstritten. So betonte etwa Stephen Ubl, Präsident der Pharmaceutical Research and Manufacturers of America (PhRMA), dass der Zug nicht dazu beitragen werde, Leben zu retten.
"Mitten in einer tödlichen Pandemie hat die Biden-Administration einen beispiellosen Schritt unternommen, der unsere globale Reaktion auf die Pandemie untergraben und die Sicherheit gefährden wird."
Es sei nun zu befürchten, dass "amerikanische Innovationen an Länder übergeben werden, die unsere Führungsrolle in der biomedizinischen Forschung untergraben wollen".
Auch der Republikaner Richard Burr, stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im US-Senat, kritisierte die Patent-Ansage der Biden-Administration:
"Die Biden-Regierung sollte es nicht unterstützen, geistige Eigentumsrechte aufzuheben, weil das genau die Art von Innovation untergräbt, auf die wir setzen, um diese Pandemie zu einem Ende zu bringen."
Bereits vor der Bekanntgabe der US-Handelsbeauftragten hatten Fachleute und Politiker jedoch daran erinnert, dass die Entwicklung der Corona-Vakzine auch durch die öffentliche Hand erfolgt sei. In einer Kleinen Anfrage von Abgeordneten der Partei Die Linke hieß es Ende Juni 2020 etwa: "Derzeit fließen weltweit auf nationalen und internationalen Ebenen öffentliche Mittel in Milliardenhöhe in die Forschung, Entwicklung und Produktion von Impfstoffen und Medikamenten gegen die Erkrankung COVID-19."
Auch das Wirtschaftsmagazin Cicero gab Anfang Februar zu bedenken, dass "die Forschung und Produktion zu großen Teilen von Steuergeldern finanziert" worden seien. Der Patentschutz sollte daher überdacht werden, hieß es weiter.
"Allein für Biontech hat das deutsche Wissenschaftsministerium 375 Millionen Euro locker gemacht. In den USA hat Donald Trump insgesamt ca. 10 Milliarden Dollar an Unternehmen verteilt, die sich der Suche nach einem Impfstoff verschrieben haben."
In einem Interview mit dem US-Kanal Sky News vom 25. April hatte sich derweil auch der als mutmaßlicher globaler Gesundheitsphilanthrop gehandelte Microsoft-Mitbegründer Bill Gates gegen eine Lockerung des Patentschutzes ausgesprochen.
"Es gibt nur eine bestimmte Anzahl an Impfstoff-Fabriken in der Welt, und die Menschen nehmen die Sicherheit von Impfstoffen sehr ernst."
Es sei nur "unseren Zuschüssen" und der entsprechenden "Expertise" zu verdanken, "einen Impfstoff, sagen wir, von einer [Johnson & Johnson]-Fabrik in eine Fabrik in Indien zu verlagern". Zum prominenten Personenkreis, der sich bislang gegen eine Freigabe der Patente äußerte, gehört auch BioNTech-Chef Uğur Şahin. Das milliardenschwere Start-up aus Mainz wolle lieber Lizenzen für die Produktion vergeben. Bislang liegen diese Lizenzen jedoch noch in der Schublade.
Ende Februar 2021 erklärte derweil etwa Marco Alves von der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen, dass die EU-Kommission und die Bundesregierung eine WTO-Resolution blockierten, "die eine globale Produktion von Impfstoffen beschleunigen würde".
Doch nach der US-Ankündigung sieht die Sache nun anders aus. So verkündete etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstagmorgen vorsichtig:
"Die Europäische Union ist bereit, jeden Vorschlag zu diskutieren, der diese Krise wirksam und pragmatisch angeht."
Laut von der Leyen sei Europa "die einzige demokratische Region der Welt, die Exporte im großen Maßstab erlaubt". Die Kommissionspräsidentin beeilte sich jedoch den nun durch die US-Administration aufgebauten und mutmaßlichen "moralischen Druck" zu kontern. Bei Twitter verkündete von der Leyen, dass die EU bereits "führend bei der Lieferung von wirksamen Impfstoffen an den Rest der Welt" sei. So seien bereits "mehr als 200 Millionen Impfdosen" in die Welt gegangen".
Auch Grünenchef Robert Habeck sprang nach dem US-Vorstoß auf den Zug auf, um für eine Ausnahmeregelung zu werben, wie der Spiegel am Donnerstag berichtete:
"Deutschland und die EU sollten sich den USA anschließen und sich bei der Welthandelsorganisation für eine Ausnahmeregelung einsetzen."
Patente hätten "ihren Sinn, aber wenn der Patentschutz bedeutet, dass die Pandemie nicht effizient bekämpft werden kann, dann ist das widersinnig. Es ist Zeit umzusteuern". Selbst Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) meinte am Donnerstagnachmittag noch, dass Deutschland "offen für eine Diskussion" sei, "den Patentschutz auszusetzen."
Nur kurze Zeit später gab Bundeskanzlerin Angela Merkel aber die Richtung vor und widersprach damit direkt ihrem Minister, als sie sich gegen solcher Lockerungen des Patentschutzes aussprach. Am Donnerstagabend erklärte eine Regierungssprecherin, dass "Herstellungskapazitäten und hohe Qualitätsstandards" und "nicht die Patente" "der limitierende Faktor für die Produktion von Impfstoffen" seien.
"Der Schutz des geistigen Eigentums ist eine Quelle der Innovation, und das muss auch in Zukunft so bleiben."
Der US-Plan würde zu "schweren Komplikationen" für die Produktion von Impfstoffen führen, erklärt die Merkel-Sprecherin weiter.
Beamte und Diplomaten in Brüssel warnen demzufolge bereits davor, dass die Patent-Debatte auf der Bühne der WTO Monate dauern und wahrscheinlich nur zu einem teilweisen Verzicht auf den Patentschutz führen werde. Zudem seien die Chancen gering, dass die EU und die USA bereit sind, die eingesetzte mRNA-Technologie etwa mit dem "systemischen Rivalen" China zu teilen. Dies gibt auch das Handelsblatt zu bedenken, denn wenn "nun unkontrolliert Produktionsstätten entstehen, hätte auch die Konkurrenz aus Russland und China Zugriff auf die Methode. So könnten die westlichen Unternehmen einen großen Teil ihres Vorsprungs verspielen".
Bloomberg führt ins Feld, dass die meisten sogenannten Entwicklungsländer ohnehin weder die Kapazität noch das Fachwissen besäßen, um ad hoc die Impfstoff-Kapazität durch eigene Produktion entscheidend zu erhöhen.
Die Argumentation auch der EU lautet daher, dass sich die Unterversorgung kurzfristig viel eher dadurch beheben ließe, dass die USA ihren Exportstopp aufheben. Gesundheitsminister Jens Spahn erklärte, dass impfstoffproduzierende Staaten auch bereit sein müssten, "diesen auch an andere zu exportieren".
"Wir freuen uns, wenn die USA es nun auch sind."
In Deutschland selbst sorgte die Diskussion um Exporte zuletzt jedoch für kontroverse Debatten. So hatte sich etwa der bayerische Ministerpräsident Markus Söder Mitte März für einen Exportstopp ausgesprochen:
"Ich bin sehr dafür, über einen Exportstopp nachzudenken."
Niemand, so Söder, verstehe, dass in der EU Impfstoffmangel herrsche, während Vakzine aus EU-Produktion "überall hin exportiert" würden.
Parallel dazu zeigte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller Unverständnis dafür, dass in Länder exportiert würde, "die beim Impfen weiter sind als wir". Damit ist unter anderem auch die USA gemeint.
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