Epidemiologe Ioannidis: Ein harter Lockdown kann die Situation sogar verschlimmern

In einem Interview spricht sich der renommierte Epidemiologe John Ioannidis erneut gegen harte Lockdowns als zentrales "Werkzeug" gegen COVID-19 aus. Maßnahmen wie Ausgangssperren brächten keinen Nutzen und könnten sogar schaden.

Hierzulande kann man davon ausgehen, dass sich die Bundesrepublik noch eine Weile im Lockdown befinden wird. Dabei sind Lockdowns auch unter Wissenschaftlern nicht unumstritten und keineswegs so alternativlos, wie in den deutschen Medien gerne suggeriert wird. Einer der bekanntesten Lockdown-Kritiker ist der renommierte griechisch-US-amerikanische Medizinstatistiker und Epidemiologe John Ioannidis, der sich im Interview mit der Welt am Sonntag zu seinen Forschungsarbeiten und darüber äußerte, warum Lockdowns nichts bringen und sogar schädlich sein können.

Bekannt wurde Ioannidis in der Corona-Krise vor allem durch Studien, in denen er analysiert, warum Lockdowns weitestgehend wirkungslos sind, um das mutmaßliche Infektionsgeschehen einzudämmen. Schon im Mai 2020 ist laut Ioannidis klar gewesen, dass man in der Corona-Krise keine "drakonischen Maßnahmen" brauche, da diese keinen Nutzen bringen. Abstandsregeln, Masken und Hygieneregeln seien zwar sinnvoll, und auch der besondere Schutz der Risikogruppen sei notwendig. Doch alles, was an staatlichen Einschränkungen darüber hinausgehe, bringe keinen zusätzlichen Nutzen. Einige Länder hätten das Virus zwar sehr schnell eindämmen können. An Orten, an denen sich das Virus weit verbreitet hat, könne ein harter Lockdown die Situation aber sogar verschlimmern.

Maßnahmen wie Ausgangssperren, die auch in Deutschland zur Debatte stehen, sind laut Ioannidis nicht wirkungsvoll:

"In der begrenzten Zeit sind dann mehr Leute gleichzeitig im öffentlichen Raum unterwegs. Sie stecken sich so vermehrt an und sitzen anschließend vermehrt in geschlossenen Räumen zusammen."

Die Kritik an seiner bekannten Studie, in der er belegt, dass Lockdowns keine Wirkung zeigen oder sogar schädlich sind, wies er im Interview zurück: Es gebe auch Kritik an den Arbeiten anderer Arbeitsgruppen.

"Und bei der großen Mehrheit meiner Kritiker handelt es sich nicht um Wissenschaftler, sondern um Aktivisten oder um Anfänger, die selbst noch wenig publiziert haben."

Einer seiner Kritiker, der im Vorgespräch des Interviews erwähnt wurde, sei beispielsweise ein junger Forscher, dessen Arbeiten erst 1.600-mal zitiert wurden, dies schafften viele seiner Studenten in zwei Jahren. Seine eigenen Arbeiten wurden hingegen nach Aussage von Ioannidis rund 340.000-mal zitiert.

Ioannidis wies darauf hin, dass viele Forscher versuchen, ihre Analysen so anzupassen, dass sie in ein bestimmtes Narrativ passen. Viele der Wissenschaftler mögen zwar in der Datenanalyse gut ausgebildet sein, hätten jedoch keine Ahnung von Epidemiologie und Infektionskrankheiten. Auch die Tatsache, dass man in vielen Ländern einen scheinbaren Rückgang der positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Personen nach einem Lockdown beobachten könnte, sieht Ioannidis kritisch. Wenn er sich den Zeitpunkt ansehe, zu dem Maßnahmen eingeführt wurden, glaube er nicht, dass der Lockdown zu einem großen Unterschied führte. Man werde dies wie bei der ersten Welle noch analysieren. Allerdings scheint es bisher so, als ob der Lockdown sogar einen negativen Effekt gehabt habe.

Im Interview stellte Ioannidis auch klar, dass er nie behauptet habe, es solle gar keine Maßnahmen geben. Im Februar 2020 sei er noch der Meinung gewesen, dass man einen harten Lockdown benötige, doch im Mai sei ihm dann klargeworden, dass man keine "drakonischen Maßnahmen benötigt". Am Anfang der Corona-Krise habe man noch nicht gewusst, "ob in der ersten Saison 10.000 oder 40 Millionen sterben werden". Doch je mehr Informationen man habe, umso mehr müsse man sein Handeln anpassen. Normalerweise brauche man in der Wissenschaft 20 bis 30 Jahre, um eine bedeutsame Idee zu entwickeln. Angesichts der Lage müsse man jedoch "tun, was man könne".

Sorge bereite ihm allerdings, dass seine Arbeit in den sozialen Medien häufig als Beleg angeführt wird, dass "die Gefahr durch das Virus übertrieben wird". Nicht jeder, der seine Arbeiten diskutiere, tue dies auch in seinem Sinne. Früher hätten sich nur sehr wenige Menschen mit der Wissenschaft beschäftigt, heute habe jedoch jeder eine Meinung zu Corona. Dies sei auch nicht verwunderlich, da sich die Corona-Krise massiv auf das tägliche Leben auswirke. Durch die politischen Extreme werde es jedoch immer schwerer, zu einem "Gefühl von Gemeinschaft" zurückzufinden:

"In der öffentlichen Debatte wird Wissenschaft instrumentalisiert. Wissenschaft ist zu einer Waffe geworden, um gehört zu werden. In den USA werde ich vor allem von den sehr Linken angefeindet, in Griechenland von den Ultrarechten. Das ist total verrückt."

Sorge bereiten dem Forscher auch die "fürchterlichen Angriffe" gegen Wissenschaftler. Sein "Mentor" Tony Fauci habe Todesdrohungen bekommen, ebenso wie der bekannte deutsche Virologe Christian Drosten:

"Und ich habe mitbekommen, was Hendrik Streeck passiert ist. Der wurde sehr scharf angegriffen für seine Studie in Gangelt, dabei war sie meiner Meinung nach sehr gut gemacht."

In Bezug auf Deutschland empfiehlt Ioannidis, die Bevölkerung wieder an das Maskentragen und die Praxis des Social Distancing zu erinnern und mehr zu testen. Ausgangssperren und Schulschließungen sollten jedoch auf jeden Fall vermieden werden, da solche staatlich verordneten Einschränkungen auf lange Sicht die Lage verschlimmern. Man müsse stattdessen die Alten- und Pflegeheime noch konsequenter schützen. Außerdem rät der Mediziner dringend zu repräsentativen Antikörper-Studien:

"Selbst im armen Indien wurden solche Studien mehrfach gemacht – mittlerweile haben sich dort 60 Prozent der Menschen infiziert."

Mehr zum Thema -Forscher der Universität Stanford: Corona-Sterblichkeit liegt im Bereich 0,15 bis 0,2 Prozent