Angela Merkel auf dem Weltwirtschaftsforum: "Brauchen wir wirklich diesen Great Reset?"

Während des Weltwirtschaftsforums gaben sich die mächtigsten Staatenlenker der Welt wieder die Klinke in die Hand – diesmal virtuell. Moderiert von WEF-Gründer Klaus Schwab, ergriff auch Bundeskanzlerin Angela Merkel das Wort und äußerte sich unter anderem auch zum "Great Reset".

Erstmals in der Geschichte des Weltwirtschaftsforums fand das illustre Treffen der mächtigsten Staatenlenker digital im Internet und nicht wie sonst üblich im gediegenen Ambiente des Schweizer Alpenorts Davos statt. Die "Davos Agenda" getaufte Veranstaltung begann am Montag.

Bis zum Freitag sollen dabei hochrangige Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Online-Runden über die aktuellen globalen Herausforderungen wie etwa die ausgerufene COVID-19-Pandemie und den Klimawandel diskutieren.

So ergriff auch Bundeskanzlerin Angela Merkel das Wort. Zuvor erinnerte WEF-Gründer Klaus Schwab Merkel daran, dass man bereits auf dem vergangenen Gipfeltreffen der Mächtigen über die Notwendigkeit gesprochen habe, wie "wir die Welt möglichst inklusiver und nachhaltiger gestalten sollten". Durch die Pandemie hätte das Thema "noch größere Priorität erhalten", so Schwab weiter. Durch das Coronavirus sei zudem die Notwendigkeit klar zu Tage getreten, eine "widerstandsfähigere Wirtschaft und Gesellschaft zu kreieren".  

Merkel habe, so Schwab lobend, "das Boot Deutschland, Europa, Welt mit ruhiger Hand, besorgt, aber auch immer vorausschauend durch die heftigen Wogen der letzten zwölf Monate gesteuert".

Ihren Redebeitrag startend, geht die Bundeskanzlerin darauf ein, dass "Herr Şahin, der Chef von BioNTech", eine der Persönlichkeiten gewesen sei, die "gewusst oder geahnt" hätten, dass "wir in einer Pandemie leben werden". Am 24. Januar, so Merkel, habe Şahin die Entscheidung gefällt, "das gesamte BioNTech-Forschungsprogramm umzuwerfen und einen mRNA-Impfstoff gegen dieses Virus zu entwickeln". Die Entwicklung der Corona-Impfstoffe zeige, Wozu die Menschheit und die Wissenschaft in der Lage seien.

Die Pandemie, so Merkel, zeige "tiefe Spuren in unserer Gesellschaft und Wirtschaft". Die Bundeskanzerlin ist zudem davon überzeugt, dass die ausgerufene Pandemie die Menschen in den nächsten Monaten und sogar Jahren prägen werde. "100 Millionen Menschen" hätten sich mit dem Virus angesteckt, mehr als "zwei Millionen" seien gestorben und sicherlich gebe es eine sehr große Dunkelziffer, führt Merkel aus.

Merkel zum "Great Reset": Brauchen wir das wirklich?

Aufgrund der "Wirtschaftseinbrüche" sei "natürlich das Davos-Forum der richtige Ort", um über die Zeit nach der Pandemie und über Wege aus der Pandemie zu diskutieren. Anschließend kommt die CDU-Politikerin auf den von Schwab in mehreren Büchern bereits eingeführten und vom Weltwirtschaftsforum propagierten Great Reset ("Großer Neustart") zu sprechen.

"Sie haben das Motto 'The Great Reset' gewählt. Das ist das diesjährige Thema. Und ich frage einmal: Brauchen wir wirklich diesen Great Reset?"

"Oder", so Merkel ergänzend, "ist es nicht mehr so, dass wir weniger in den Zielsetzungen einen Neuanfang brauchen, sondern mehr in der Entschlossenheit unseres Handelns?"

Doch bei der vom WEF gestarteten Initiative des Great Reset geht es nicht so sehr um neue "Zielsetzungen", sondern vielmehr darum, das "einzigartige Fenster der Möglichkeiten" zu nutzen, "um den Genesungsprozess zu gestalten", also durchaus auch um die von Merkel erwähnte "Entschlossenheit des Handelns".

Für das nun weit offenstehende Fenster der Möglichkeiten ("window of opportunity") dient die COVID-19-Pandemie als Katalysator. Ein sogenannter "Stakeholder-Kapitalismus" soll die Gesellschaften der Welt grün, inklusiv und sozial gerecht im Sinne der von Schwab ausgerufenen "Vierten Industriellen Revolution" umgestalten. Dabei müsse jedes Land mitmachen und jede Wirtschaftsbranche transformiert werden, ist Schwab überzeugt.

Hinter dem Begriff des Stakeholder-Kapitalismus verbirgt sich die Absicht, die wirtschaftlichen Aktivitäten von Unternehmen nach den Bedürfnissen aller Stakeholder auszurichten und nicht nur im Dienste der Gewinne und Renditen zu wirtschaften. Dadurch soll das Überleben des Kapitalismus als grundlegende Triebfeder wirtschaftlichen Handelns ermöglicht werden.

Dazu erklärte Schwab:

"Ich plädiere nicht für eine Systemänderung. Ich plädiere für eine Systemverbesserung."

Nicht von ungefähr trägt sein neuestes Werk den Titel: "Stakeholder Capitalism: A Global Economy that Works for Progress, People and Planet". Zum Buch heißt es beim Wall Street Journal:

"Bei einem Buch, dessen These lautet, dass Unternehmensführer die Welt besser machen, indem sie neben dem Profit auch soziale Ziele verfolgen, würde man eine Diskussion des wichtigsten Gegenarguments erwarten – nämlich dass Unternehmensführer die Welt tatsächlich schlechter machen könnten, (...) indem sie genau das tun, was Herr Schwab fordert."

Doch zu dieser möglichen Entwicklung schweige Schwab. So möge der "Stakeholder-Kapitalismus am Ende eine profitablere Version des klassischen Kapitalismus sein – weil er die Öffentlichkeit austrickst, indem er das Terrain verwässert".

"Und deshalb will ich drei Fragen nachgehen, die zusammenhängen mit der Frage: Was hat diese Pandemie uns gezeigt?", erklärt Merkel weiter während ihrer WEF-Rede.

"Ich glaube, sie hat uns erst mal unsere globale Verknüpftheit oder Verbundenheit gezeigt."

"Die Pandemie", so Merkel, sei so etwas wie "eine Jahrhundert-Katastrophe, ein Jahrhundert-Naturereignis". Nun gehe es darum, die durch COVID-19 aufgedeckten "Schwachstellen zu beheben". Zur Stabilisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens habe ein "nie dagewesenes Konjunkturprogramm von über 100 Milliarden Euro" beigetragen.

Als Schwachstelle wurde demnach durch die Corona-Krise "ein Mangel an Digitalisierung unserer Gesellschaft" aufgedeckt, wie etwa bei der Vernetzung der Gesundheitsämter. Die Pandemie habe zudem verdeutlicht, dass es wichtig sei, zu reden, sich Dinge gedanklich klarzumachen.

"Aber vor allem, dass jetzt ein Zeitraum des Handelns kommt". Dieses Handeln solle "möglichst gemeinsam" erfolgen. "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es", bemühte Merkel den Dichter Erich Kästner in diesem Zusammenhang.

Zudem habe man sich "zu Klimaneutralität für das Jahr 2050 verpflichtet". Dies könne dazu führen, dass Europa "der erste klimaneutrale Kontinent" werden könne. Nun stünden "sehr harte Monate" bevor, in denen es darum gehe, den Green New Deal voranzutreiben.

Um ihren Worten mutmaßlich mehr Gewicht zu verleihen, wechselt Merkel beim Thema Corona-Infektionszahlen in die englische Sprache:

"There is no glory in prevention" ("Es liegt kein Ruhm in der Prävention"). Wenn man auf den Verlauf von Infektionszahlen schaut, das haben wir uns ja jetzt alle angewöhnt, dann ist ja das Phänomen des exponentiellen Wachstums so, dass man am Anfang nichts sieht."

Genau "in diesem Zeitabschnitt" ist es laut Merkel notwendig, vorsorglich "bereits zu handeln". Dies sei die eine große Lehre aus der Pandemie, die es auch in anderen Bereichen zu beherzigen gelte, wenn Entwicklungen "nicht aus den Fugen geraten" sollen. Damit verweist Merkel auf den von Schwab in einem Zwischenkommentar eingeführten Begriff der "präventiven Agilität".

Schwab verweist nun auch auf den von ihm propagierten Begriff des "Stakeholder capitalism".

"Ich wundere mich immer wieder, dass (er) ideologische Widerstände hervorruft. Zumal in meinen Augen ein Unternehmen ja nicht nur eine wirtschaftliche Einheit, sondern auch eine gesellschaftliche Funktion hat und die beiden nicht im Widerstand stehen."

Als Nächstes will Schwab von Merkel wissen, was das "zukünftige Gesellschaftmodell" sein müsse.

Laut Merkel sei das Konzept der sozialen Marktwirtschaft "vom Menschen her" zu denken. Es sei notwendig, den Menschen "Entfaltungsspielraum" zu geben, aber auch immer wieder "Leitplanken" aufzustellen. Es gehe immer um die richtige "Balance zwischen staatlichem Handeln und individueller Verwirklichung".

Der Staat habe wieder an Bedeutung gewonnen. Das alleinige Vertrauen darauf, dass "Unternehmen schon das richtige machen werden", sei alleine nicht tragfähig. Allerdings sei der Staat auch nicht "der beste Unternehmer".

Beim Thema Multilateralismus geht Merkel auf die selbst gestellte Frage ein, was dieser bedeute, "wenn man unterschiedliche gesellschaftliche Modelle hat".

"Wann beginnt Einmischung und wann beginnt das Eintreten für elementare und nicht teilbare Werte?", so die Kanzlerin.

So spiele etwa "die Würde jedes einzelnen Menschen" in der Charta der Vereinten Nationen eine wichtige Rolle. Das führe zu unterschiedlichen Interpretationen des Begriffs Multilateralismus. Sie persönlich wünsche sich keine Blockbildung, dies sei nicht das europäische Selbstverständnis, betont Merkel.

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