Von Dagmar Henn
Es war ein eigenartiges Wochenende, mit zwei größeren Demonstrationen ‒ eine in Berlin, die andere in Potsdam ‒, deren Ablauf und Darstellung den Umgang mit Opposition wie in einem Brennglas einfängt. Eine der beiden Demonstrationen, der Gedenkmarsch für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg (als "LL-Demonstration" bekannt), ist eine der ältesten politischen Demonstrationen, die es in Deutschland gibt – dieses Gedenken fand bereits zu Zeiten der Weimarer Republik statt und wurde nach 1945 eines der Ereignisse, bei denen die DDR ihre Verbindung zu dieser Tradition bestätigte, um nach 1990 wieder zu einer oppositionellen Demonstration zu werden.
In diesem Jahr kam es um diese Demonstration zu polizeilichen Übergriffen, die nach Medienberichten durch die Losung "From the river to the sea ‒ Palestine will be free" ausgelöst wurden, die seit Jahrzehnten gebraucht wird, aber neuerdings in Deutschland als Straftat gilt. Der Bericht der Tagesschau über die LL-Demonstration schreibt dazu, "auch Anhänger propalästinensischer Gruppen hätten sich unter die Demonstranten gemischt", als hätte es sich dabei um einen Fremdkörper gehandelt und nicht um Angehörige von Organisationen, die seit Jahrzehnten an dieser Demonstration teilnehmen.
Die andere Demonstration, die gewissermaßen den entgegengesetzten Pol des kulturellen Spektrums "Demonstration" darstellt (soweit dieser Begriff dafür überhaupt angebracht ist), fand in Potsdam statt, unter Beteiligung von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, und sollte eine Demonstration "für Demokratie" sein, auf der ganz nebenbei dann auch die Forderung nach einem AfD-Verbot vertreten wurde. Anlass dieser Demonstration war der Bericht über jenes "Geheimtreffen" bei Potsdam, das in der Berichterstattung von "Correctiv" schon zur zweiten Wannsee-Konferenz aufgeblasen wurde.
Derartige Demonstrationen, die Regierungspositionen bekräftigen, sind in der Geschichte der Bundesrepublik ein relativ neues Phänomen. Die großen Demonstrationen in der alten BRD richteten sich immer gegen die Regierung und ihre Politik: von den Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung über die Bewegung 1968, die sich gegen den von den USA geführten Krieg in Vietnam und gegen die Einführung der Notstandsgesetze richtete, über die Demonstrationen gegen die Errichtung von Atomkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen bis hin zur größten Demonstration in der bundesdeutschen Geschichte, gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen in Deutschland, mit 750.000 Teilnehmern 1981 in Bonn.
Eigentlich ergibt es sich schon aus dem Ursprung der Bezeichnung Demonstration, dem lateinischen Verb "demonstrare", das so viel bedeutet wie "vorzeigen". Das Demonstrationsrecht ist eines der Rechte, die die Bürger gegen die Regierung haben; der Zweck von Demonstrationen ist es, jene politischen Positionen sichtbar zu machen und ihre Bedeutung zu belegen, die nicht von den regierenden Parteien und den Medien vertreten werden. Genau das kann man bei den historischen großen Demonstrationen belegen. Es ist auch logisch – eine Position, die ohnehin allgegenwärtig ist, braucht diese Bestätigung nicht, und niemand würde den Aufwand, den jede größere Demonstration darstellt, unnötig betreiben. Es kommt auch niemand auf die Idee, für das Bürgerliche Gesetzbuch oder den Betrieb von Verkehrsampeln auf die Straße zu gehen.
In der alten BRD vor 1990 gab es zwar Wahlkampfkundgebungen von Regierungsparteien, ganz selten auch Kundgebungen außerhalb von Wahlkämpfen, aber keine Demonstrationen, um Regierungspositionen zu bekräftigen. Regierungsdemonstrationen nannte man eher Aufmärsche. So wurde etwa die LL-Gedenkdemonstration, als sie noch einer der verpflichtenden Anlässe für die Staatsführung der DDR war, im Westen als "Aufmarsch" bezeichnet, so wie auch die jährlichen Demonstrationen zum 1. Mai. Das sollte eine Assoziation an die Aufmärsche der Nazis wecken (die ihre Demonstrationen selbst mit diesem Begriff bezeichneten); gleichzeitig wurden derartige Veranstaltungen aber als Zeichen der Schwäche verspottet, weil sich die Regierung gedrängt fühle, öffentliche Unterstützung zu simulieren.
Es gab allerdings entscheidende Unterschiede zwischen derartigen Veranstaltungen in der DDR und den Aufmärschen der Nazis; dazu zählt nicht nur der scharfe inhaltliche Gegensatz, der heutzutage in deutschen Darstellungen gern verleugnet wird, sondern auch ein technischer Unterschied – in der DDR wie in den anderen sozialistischen Staaten war der Zweck dieser Veranstaltungen die Bekräftigung einer Tradition; bei den beiden Hauptanlässen des LL-Gedenkmarsches und des 1. Mai handelte es sich um die Fortsetzung einer politischen Gewohnheit, die schon lange vor dem Staat DDR existierte. Andere Anlässe waren Großveranstaltungen, wie Weltjugendfestspiele.
Was es nicht gab, was aber von den Nazis gern und reichlich genutzt wurde, waren Demonstrationen, die von der staatlichen Gewalt mit organisiert und gestützt, aber als Bekundung des "gesunden Volksempfindens" dargestellt wurden, die den Zweck verfolgten, politische Grenzen zu überschreiten. Darunter finden sich beispielsweise die Bücherverbrennungen des 10. Mai 1933, die ebenso "spontaner Ausdruck berechtigten Volkszorns" sein sollten, wie die Pogrome vom 9. November 1938. Diese Methode, sich gewissermaßen selbst die gewünschte vermeintliche Zustimmung der Bevölkerung zu inszenieren, findet sich in der deutschen Geschichte nur bei den Nazis.
Leider müsste man ehrlicherweise schreiben, "fand sich". Das, was am Sonntag in Potsdam stattfand, war eine politische Handlung von genau dieser Sorte: eine rein affirmative, von der Exekutive organisierte und gestützte Veranstaltung, die den Zweck verfolgte, den Schwung zu verschaffen, um mit dem Verbot einer 30-Prozent-Partei eine politische Grenze zu überschreiten. Da war es wieder, das "gesunde Volksempfinden", diesmal in einer Camouflage "gegen Rechts", sozial und kulturell aber eine Neuauflage der "spontanen Studentendemonstration" des Mai 1933.
Die Entwicklung dahin verlief schleichend. Die Anfänge wirkten noch positiv. Jahrzehntelang wurde man als "Linksextremist" attackiert, wenn man gegen Kundgebungen von Neonazis demonstrierte, die selbst von der Staatsmacht geschützt wurden, bis hin zu Vereinigungen wie der Wehrsportgruppe Hoffmann, die erst verboten wurde, als zu dem Anschlag auf das Oktoberfest 1981 noch der Mord an einem jüdischen Verleger kam. Erst in den 2000ern begann das zu kippen, und die Bündnisse zu einzelnen Anlässen schlossen sogar CSU-Vertreter mit ein; dass bei dieser Gelegenheit klare politische Formulierungen durch Werbeslogans wie "bunt statt braun" ersetzt wurden, wirkte erst einmal hinnehmbar, weil bei Bündnissen Breite und Klarheit üblicherweise nicht gleichzeitig zu haben sind.
Im selben Zeitraum vollzog sich aber auch eine Verwässerung des Faschismusbegriffs, der jeden Bezug zu konkret Handelnden und konkreten Interessen verlor. Wer sich tatsächlich mit der Geschichte der Machtübergabe an die Nazis auseinandergesetzt hat (hier ist der Historiker Kurt Gossweiler zu empfehlen), weiß, dass man darauf achten muss, welche Positionen und Parteien von den Milliardären und den großen Konzernen gestützt werden, denn genau das brachte einen Adolf Hitler einst an die Macht. Und in dieser Hinsicht hat er auch geliefert – nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als die mächtigen I.G. Farben, die die Nazis mit am klarsten an die Macht befördert hatten, in die drei Konzerne Bayer, BASF und Hoechst aufgeteilt wurden, war jeder einzelne dieser Teile größer und reicher, als die gesamten I.G. Farben es einst waren. Mitten in einem zerstörten, ausgeplünderten Europa waren sie mit die größten Profiteure.
Erst verschwand die Frage der Interessen, dann ging es nur noch um Einstellungen, "völkische" beispielsweise, und dann wurde all das durch den vagen Begriff "rechts" ersetzt. Nun gibt es ein politisches Kontinuum, an das faschistische Ideologien anknüpfen können; das erstreckt sich allerdings nicht von konservativ nach faschistisch, sondern von (neo-)liberal nach faschistisch. Wenn man die Geschichte des antifaschistischen Widerstands in Deutschland betrachtet, verlief die scharfe Grenze zwischen Konservativen und Faschisten; Erstere arbeiteten in verschiedenen Zusammenhängen auch mit Kommunisten zusammen, um die Nazis zu bezwingen.
Der Begriff "rechts" als Definition dessen, gegen das man sein müsse, verhindert, wirkliche Faschisten zu erkennen, wie sich in Deutschland derzeit bestens beobachten lässt, wo eine Ablehnung von Transgendertoiletten jemanden zum "Rechten" macht, ein Posieren mit Asow-Nazis aber nicht.
Als diese Aufweichung das erste Mal auftauchte, schien auch das irgendwie logisch; schließlich möchte man als Linker etwas bewegen, die Gesellschaft zum Guten verändern, und als endlich ein Konsens erreicht schien, dass Nazis böse sind, wirkte natürlich eine Ausweitung attraktiv; schließlich musste man einen neuen Unterschied zu dem CSU-Vertreter finden, der jetzt in den Demonstrationen gegen Nazis neben einem stand. Dies nur, um darauf hinzuweisen, dass diese Verschiebung nicht notwendigerweise das Produkt gezielter Beeinflussung sein muss, auch wenn das Endergebnis, die völlige Zerstörung der traditionellen Linken, eine solche Sicht nahelegt.
Der erste Moment, an dem diese neue Definition "rechts" auf die traditionelle Linke angewandt wurde, war 2014, als Demonstrationen gegen den Krieg im Donbass mit dem Vorwurf der "Querfront" belegt wurden. Danach gab es dann immer mehr Demonstrationen, die weitgehend inhaltsleer einzig eine Unterstützung für die Regierung bekundeten, wie "Unteilbar" oder "Wir sind mehr". Sie waren aber vorerst zumindest dem Anschein nach noch keine Regierungsveranstaltungen.
Zurück zu unseren beiden Demonstrationen. Die eine, Fortsetzung einer hundertjährigen deutschen linken Tradition, ist nun, weil die Unterstützung Palästinas offiziell als antisemitisch gilt, beinahe schon rechts, was natürlich den Polizeiübergriff geradezu zum Ausfluss des Guten macht, während die andere Demonstration, die sich "gegen Rechts" zu richten scheint, in Ursprung und Zielrichtung an nichts mehr erinnert als an die Aufmärsche der Nazis. Wenn beide Varianten aufeinanderprallen, wie an eben diesem Wochenende in Göttingen, dann ist das alles andere als gewaltfrei; nur, dass die Rollen auf bizarre Weise vertauscht scheinen und die Funktion der SA heute von Gruppen erfüllt wird, die sich "Antifa" nennen.
Das Versammlungsrecht selbst gerät dabei – wie das Recht, Vereinigungen zu bilden, durch die Forderung nach einem AfD-Verbot – immer weiter ins Hintertreffen. Schließlich wird die völlig entleerte Vokabel "rechts", ja sogar die Bezeichnung "Nazi", mittlerweile auf alles angewandt, was nicht der Regierungslinie entspricht, gleich, ob im Zusammenhang mit dem Krieg der NATO gegen Russland, der Migrationspolitik, den Corona-Maßnahmen oder den jüngsten sozialen Angriffen in Gestalt von Heizgesetz und Klimasteuern. Und mit der Zuteilung dieses Etiketts ergibt sich automatisch nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht staatlicher Organe zur Verfolgung, während die Regierung selbst, die längst jedes Vertrauen verloren hat, auf das "gesunde Volksempfinden" zurückgreift, um Zustimmung zumindest zu simulieren.
In der wirklichen Welt können sich die Deutschen nur dann noch zurechtfinden, wenn sie wahrnehmen, dass die vertrauten politischen Begriffe inzwischen oftmals das genaue Gegenteil besagen. Die beiden Demonstrationen vom Wochenende sind dafür ein Beispiel; ein anderes ist die deutsche Unterstützung für Israel im Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof, für die es nur zwei Gründe geben kann: Entweder, die Vertreter der Bundesregierung sind außer Stande, die in der südafrikanischen Klage aufgelisteten Aussagen israelischer Politiker zu lesen, die eine Absicht zum Genozid erkennen lassen, oder sie sind selbst davon überzeugt, dass es Menschen gäbe und Untermenschen, wobei Letztere ermordet werden dürfen. Eine Haltung, die nicht "rechts" ist, sondern faschistisch. Was eine gewisse Resonanz zum Einsatz politischer Handlungen aufweist, die, wie der Potsdamer Aufmarsch, in ihren soziokulturellen Eigenschaften in genau dieser Epoche ihre Vorbilder finden.
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