Mittelständische Unternehmen gelten gemeinhin als das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Insbesondere die "Hidden Champions" , also mittelständische Unternehmen, die unter den Top 10 oder den Top 3 ihrer Branche weltweit rangieren, sind essentiell für die Ökonomie der Bundesrepublik. Das Institut der deutschen Wirtschaft bezeichnet diese Unternehmen auch als "Stabilitätsanker". Kein Land der Welt hat eine derart hohe Dichte an mittelständischen Spitzenunternehmen: Von den 3.400 erfassten Unternehmen dieser Kategorie kamen im Jahr 2020 1.600 aus Deutschland.
Doch das könnte sich schon in naher Zukunft ändern, denn die Stimmung in der Bundesrepublik ist düster und Medienberichten zufolge planen zahlreiche dieser Betriebe, das Land zu verlassen. Wie die Berliner Zeitung unter Berufung auf die Führungsetage einer großen deutschen Bank berichtet, seien zahlreiche Unternehmen an die Bank mit der Bitte herangetreten, sie bei der Suche nach einem neuen Standort zu unterstützen. Ein Frankfurter Banker sagte:
"Das Verhältnis zwischen Wirtschaft und der gesamten Politik ist zerrüttet. Es ist besorgniserregend."
Folker Hellmeyer, der die Szene als Analyst beobachtet, sagte der Berliner Zeitung:
"Die Situation ist extrem prekär. Ich habe so etwas seit den 1970er-Jahren nicht erlebt."
Die Stimmung sei "so kritisch wie noch nie seit der Gründung der Bundesrepublik". Denn die Unternehmen seien vor allem gezwungen, auf die verfehlte Energiepolitik der Bundesregierung zu reagieren. Diese sei derzeit im Gange:
"Zuerst wird ein neuer Standort ausgewählt, dann die Produktion verlagert, und am Ende bleibt in Deutschland vielleicht noch das Hauptquartier."
Hellmeyer zufolge könne man mittlerweile von einem "vollständigen Vertrauensverlust der Wirtschaft in die Politik" sprechen. Die Entfremdung umfasse die Regierung und Opposition gleichermaßen. Die Abwanderung werde auf jeden Fall noch zu großen Problemen führen:
"Wenn Deutschland dieses noch einmalige Wirtschaftscluster der Hidden Champions verloren hat, lässt sich dieses nicht wiederherstellen. Es ist dann unwiederbringlich weg."
Derzeit sei es so, dass die Top-Unternehmen weggehen und die kleineren Unternehmen den Betrieb einstellen müssen. Die mittelständischen Unternehmen spielen jedoch eine extrem wichtige Rolle für den Standortmix, darunter auch für internationale Konzerne, die (noch) in Deutschland produzieren. Diese liefern oft Teile oder Komponenten für die Fertigung. Fallen diese Unternehmen weg, verliert der Standort Deutschland an Attraktivität für internationale Konzerne.
Mittelständler sind wiederum auf kleinere Mittelständler angewiesen, und deren Lage ist alles andere als gut. Nach drei Jahren Dauerkrise durch Lockdowns und die anschließende Energiekrise sind die finanziellen Ressourcen vieler kleiner und mittlerer Unternehmen aufgezehrt. Das größte Problem seien dabei die Energiepreise. Für die Firmen sind verlässlich verfügbare Energieträger zwingend notwendig. Laut Hellmeyer brauche man daher eine "absolute Neuorientierung anhand der Realität".
Die Internationale Energieagentur habe zudem festgestellt, dass die Wirtschaft in der Transformationsphase "nicht auf Gas und fossile Brennstoffe verzichten" könne. Zudem könne die aktuelle Entfremdung von Wirtschaft und Politik auch für das politische System zum Problem werden, meint ein Banker aus Frankfurt:
"Wenn die Leistungsträger den Glauben an das System verloren haben, öffnen sich die Türen für autoritäre Regierungen, wie wir das heute schon in vielen Staaten sehen."
Die Prognosen für Deutschland sehen laut Hellmeyer also düster aus:
"Die Hidden Champions sind nicht nur die Stützen unserer Wirtschaft, sie garantieren uns auch, dass wir in Wohlstand in einer stabilen Gesellschaft leben können. Wenn sie abwandern, stehen uns unruhige Zeiten bevor."
Mehr zum Thema - El Pais: Deutschland steht vor dem Ende des Wirtschaftsbooms