Deutschland verwandelt sich in einen "Almosenstaat"

Deutschland ist auf dem Weg zu einem "Almosenstaat", warnen deutsche Sozialexperten. Ihnen zufolge drohen die explodierenden Energiepreise und die steigenden Lebenshaltungskosten die gewohnte Lebensweise der deutschen Gesellschaft zu sprengen – was dramatische Folgen für das Land haben könnte.

Ende November hat NielsenIQ, ein Marktforschungsunternehmen für Verbraucherverhalten und Einzelhandel, eine Umfrage unter mehr als 10.000 Personen in Deutschland durchgeführt.

Die Studie ergab, dass 52 Prozent der Einwohner des Landes ihre Einkäufe einschränken und nur für Produkte Geld ausgeben, die sie wirklich brauchen. Etwa 44 Prozent geben an, dass sie kein Geld für Unterhaltungsprodukte und Luxusartikel ausgeben, und 31 Prozent gehen fast nie auswärts essen. Etwa 30 Prozent der Befragten stimmten zu, dass sie unter den derzeitigen Umständen weniger einkaufen gehen.

"Es ist bezeichnend, dass sich immer mehr Menschen fragen, worauf sie verzichten können, und dies dann auch tun", sagt NielsenIQ-Experte Lothar Steiblin.

"Die Angst der Armen wird zur Verzweiflung"

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes Ulrich Schneider teilte dem Magazin Focus mit, Deutschland sei auf dem Weg zu einem "Almosenstaat". Der Grund dafür seien die explodierenden Energiepreise, die steigenden Lebenshaltungskosten und immer höhere Belastungen für Bürger, die eine soziale Krise und schwerwiegende Folgen für das Land nach sich zögen.

"Wir hatten in Deutschland schon vor der Explosion der Lebenshaltungskosten einen Rekordwert von 13,8 Millionen armen Menschen", so der Sozialexperte. Aufgrund der aktuellen Krise kämen laut Umfragen noch einmal mehr als zwölf Millionen Haushalte hinzu, "die zwar statistisch noch nicht zu den Armen zählen, aber am Monatsende nichts mehr übrig haben".

Schneider: "Es sind keine Reserven da. Eine kaputte Waschmaschine oder eine notwendige Autoreparatur werden dann schnell zur Katastrophe. Nachzahlungen bei Strom und Gas oder höhere Abschlagszahlungen überschreiten bei sehr vielen dieser Haushalte das Mögliche." Der Experte warnt:

"Die Not erreicht die Mittelschicht."

Schneider malt ein düsteres Bild für den Fall, dass die Entwicklung ungebremst anhält. "Da die enormen Preissteigerungen für die untersten Einkommen nur unzureichend aufgefangen werden, droht unsere Gesellschaft am unteren Rand auseinanderzubrechen."

Bei denen, die sich gerade noch so über Wasser halten, schlügen die Sorgen langsam "in echte Angst" um, hat Schneider beobachtet. "Es gibt die Angst vor der nächsten Preiswelle bei Lebensmitteln, die Angst vor der Stromnachzahlung, die Angst davor, sich die Ratenzahlungen nicht mehr leisten oder die Miete nicht mehr zahlen zu können."

Mitunter sei es noch schlimmer. "Bei vielen Armen schlägt die Angst in pure Verzweiflung um", so Schneider. "Der Ansturm auf die Tafeln zeugt davon, wie ausweglos für viele Menschen die Situation mittlerweile ist." Schneider meint deshalb:

"Deutschland war viele Jahrzehnte ein moderner Sozialstaat. Wir dürfen nicht zulassen, dass er schleichend zum Almosenstaat mutiert, weil wir den Armen nicht geben, was sie brauchen."

Der Experte fordert ein gesetzliches Moratorium, was Energiesperren und Wohnungskündigungen in den nächsten Monaten angeht. "Die Menschen brauchen die Sicherheit, nicht irgendwann in der Kälte und im Dunkeln zu sitzen und nicht ihre Wohnungen zu verlieren."

Schneider fuhr in dem Interview fort: "Zwar stellen wir nach wie vor die viertstärkste Wirtschaftskraft der Welt, doch waren wir auch schon vor Corona-, Energie- und Preiskrise ein sozial sehr tief gespaltenes Land mit ungeheurem Reichtum auf der einen Seite, aber auch einer immer größer werdenden Armut auf der anderen."

Reduzierter Konsum

Die Tatsache, dass die Deutschen arm werden, wird auch von der Welt bestätigt. Jeder zweite Deutsche könne sich nur noch das Nötigste leisten, heißt es. Die Deutschen sind weniger geneigt, ihr Auto zu betanken, Medikamente und Kleidung zu kaufen, aber sie kaufen aus Angst vor weiteren Preissteigerungen eher Lebensmittel und Hygieneartikel.

Außerdem erwarten die Deutschen keine Veränderung zum Besseren und planen daher, ihren Konsum weiter einzuschränken. Laut der Umfrage glauben 52 Prozent der deutschen Bürger, dass sich die Lebenssituation in Deutschland in den nächsten drei Jahren verschlechtern wird. Dies zeigt, dass die Deutschen deutlich negativer eingestellt sind als der Rest der EU, wo der durchschnittliche Pessimismus bei 32 Prozent liegt.

Und seien wir ehrlich, die Deutschen haben allen Grund zur Sorge. "Immer mehr Verbraucher in Deutschland haben Probleme, die Kosten für Energie, Lebensmittel und grundlegende Dienstleistungen zu decken. Mehr als drei Viertel der potenziellen Käufer müssen ihre Einkäufe einschränken. Jeder Zweite von mehr als tausend Befragten gab zu, dass er nur das Nötigste kaufen kann", berichtet der Journalist Carsten Dierig von der Welt.

Die von Dierig befragten Experten erklären, dass die Mittel der Verbraucher aufgrund der im Lande grassierenden Inflation spürbar geschrumpft sind. Der Einzelhandel mit Bekleidung und Unterhaltungselektronik hat dies besonders deutlich zu spüren bekommen. In einer aktuellen Umfrage gaben 56 Prozent der Deutschen zu, dass sie derzeit wenig oder keine Kleidung kaufen. Das Gleiche gilt für die Verbraucher von elektronischen Geräten wie Fernsehern, Smartphones, Laptops und Spielkonsolen. In diesem Bereich müssen sich 56 Prozent der deutschen Verbraucher zurückhalten oder sogar auf den Einkauf verzichten.

Ähnlich verhält es sich bei Tankstellen und Apotheken – fast jeder zweite Befragte tankt seltener, und fast jeder vierte gibt zu, bei Medikamenten zu sparen. Im Rahmen weiterer Sparmaßnahmen wollen viele Deutsche auf Lieferservices verzichten und weniger Essen zum Mitnehmen bestellen. Gleichzeitig wollen viele Verbraucher auch bei Freizeitaktivitäten sparen – zum Beispiel bei Urlaubsreisen ins Ausland, Restaurant-, Bar- und Kinobesuchen, Abonnements in Fitnessstudios oder bei der Anzahl der Streaming-Dienste.

96 Prozent gehen von weiteren Preissteigerungen aus. Mehr Geld planen die Befragten dagegen für den Kauf von Lebensmitteln und Hygieneartikeln ein. "Wobei das alles andere als freiwillig, sondern eher der allgemeinen Erwartung weiter steigender Preise geschuldet sein dürfte", betont Dierig.

Und diese Annahmen sind nicht unbegründet. Seit einigen Monaten bricht die Inflationsrate in Deutschland immer neue Rekorde. Haupttreiber sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes Energie und Nahrungsmittel. Im Oktober zum Beispiel habe es Aufschläge von 43 Prozent bei Energieprodukten und von 20,3 Prozent bei Nahrungsmitteln gegeben, jeweils verglichen mit dem Vorjahresmonat.

Die Welt zitiert eine Umfrage des Münchner ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, wonach die Deutschen bald noch mehr Geld an den Supermarktkassen lassen müssen. Tatsache ist, dass zwei von drei Lebensmittelherstellern und 38 Prozent der Getränkehersteller beabsichtigen, ihre Endverbraucherpreise zu erhöhen – aufgrund der gestiegenen Rohstoff- und Produktionskosten.

"Die Unternehmen in Deutschland haben ihre gestiegenen Einkaufspreise bislang nur langsam und unvollständig an die Kunden weitergereicht", heißt es in der Untersuchung.

Sie erklären, dass bisher nur 34 Prozent der gestiegenen Rohstoff- und Produktionskosten an die Endverbraucher weitergegeben wurden. Die geringe Nachfrage, der Wettbewerbsdruck und das Fortbestehen langfristiger Verträge haben sich als hemmende Faktoren erwiesen. In den kommenden Monaten werden die Unternehmen ihre gestiegenen Kosten jedoch verstärkt an die Endverbraucher weitergeben.

Ist Putin daran schuld?

Die deutschen Minister versuchen natürlich, gespielten Optimismus aufrechtzuerhalten. Aber selbst Wirtschaftsminister Robert Habeck muss zugeben, dass die Temperatur in seinen Büroräumen nicht höher als 19 Grad sein darf – es muss Wärme gespart werden.

"Die Industrie hat seit Jahresbeginn rund 25 Prozent des Gasverbrauchs eingespart, die Produktion ist nur um 1,4 Prozent zurückgegangen. Natürlich sind energieintensive Branchen stärker betroffen als andere Bereiche, aber dennoch zeigt es, dass Effizienzgewinne möglich sind. Unter dem Druck der Preise sind wir in der Lage, marktwirtschaftliche Antworten zu geben. Darüber darf man sich nicht freuen, weil die Lage so bitter ist. Aber es zeigt, wie robust dieses Land dasteht", freute sich Habeck in einem FAZ-Interview. 

Das Wichtigste sei jetzt, Wladimir Putin zu zeigen, "wie gut die Demokratie hier funktioniert". Der Minister versprach, dass sich Deutschland nicht in eine "Industriebrache" verwandeln werde. Aber schon die Formulierung einer solchen Frage kann die Deutschen natürlich nicht kaltlassen.

Die Ampelkoalition sah in den diesjährigen Ereignissen eine Chance, ihren Traum vom weitestgehenden Verzicht auf schmutzige Kohlenwasserstoffenergie zu verwirklichen. Laut Spiegel haben die Behörden jedoch Schwierigkeiten, Unternehmen zu finden, die unter den derzeitigen Bedingungen bereit sind, Windkraftanlagen zu bauen. Die hohe Inflation und die steigenden Kreditzinsen haben die Situation für die Unternehmen in diesem Jahr erneut verschärft. Die Deutschen hingegen sind offen gesagt nicht glücklich über diese Information.

"Für meine Arbeit reise ich oft ins Ausland, auf alle Kontinente. In der Vergangenheit wurde Deutschland sehr bewundert und anerkannt, wir galten als Vorbild, als fortschrittlich, als Benchmark. Heute – und das macht mich sehr traurig – ist es oft nur ein müdes Lächeln, ein Kopfschütteln, völliges Unverständnis oder sogar Verärgerung", merkte ein Nutzer im Diskussionsforum an.

Ein weiteres Problem ist der Anstieg der Kinderarmut. Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, erklärte der Presse:

"Die Inflation trifft Familien, die nur wenig Geld zur Verfügung haben, besonders hart. Die Kinderarmut wird im kommenden Jahr also noch einmal deutlich zunehmen."

Hilgers warnte davor, dass Familien mit Kindern nicht von den Regelleistungen leben könnten – die Erhöhung komme zu spät und werde direkt von der Inflation aufgefangen. Er forderte eine dringendere Erhöhung der Leistungen.

Aber schon die Art und Weise, wie das Problem dargestellt wird, ist urkomisch – der Spiegel bezeichnet die Folgen des Krieges in der Ukraine als mitverantwortlich für das Problem der Kinderarmut. Auch dies weckte bei einigen Lesern Zweifel. "Kinderarmut gab es in Deutschland schon vor dem Krieg in der Ukraine und der Inflation. Der Zustrom armer Menschen aus der ganzen Welt hat die Situation noch verschärft. Der Hauptgrund liegt eher bei unseren Politikern als bei Putin", schreibt ein Kommentator.

"Putins Angriffskrieg ist schuld an der Kinderarmut in Deutschland – was sonst? Das ist genauso clever wie die Behauptung, dass er den Winter als Waffe benutzt", findet ein anderer.

Zuerst erschienen bei Wsgljad. 

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