Berliner Polizei ermittelt gegen Friedensaktivisten wegen Rede am 22. Juni

Die Berliner Polizei ermittelt offenbar gegen einen Berliner Friedensaktivisten wegen einer am 22. Juni am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow gehaltenen Rede, in der er unter anderem dazu aufrief, sich mit Motiven und Beweggründen Russlands zu beschäftigen. Soll damit jede Debatte über zeitgeschichtliche Ereignisse unterbunden werden?

Von Anton Gentzen

Heinrich Bücker, ein bekannter Friedensaktivist und zugleich Betreiber vom Coop Anti-War Café in Berlin, hat sich mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit gewandt, in der er über ein gegen ihn laufendes Ermittlungsverfahren berichtet. Gegenstand der Ermittlungen ist eine Rede, die Bücker in diesem Jahr am 22. Juni, dem 81. Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion, gehalten hat sowie eine Erklärung von ihm aus den ersten Märztagen dieses Jahres. 

Ein Berliner Rechtsanwalt habe Strafanzeige gegen Bücker erstattet, so seine Erklärung. Vorgeworfen wird dem Aktivisten, mit seiner Rede und der schriftlichen "Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine" den Straftatbestand des § 140 StGB "Belohnung und Billigung von Straftaten" erfüllt zu haben.

Seine ursprüngliche Funktion hatte § 140 StGB darin, den Rechtsfrieden von Tatopfern und ihren Verwandten zu schützen, nachdem Gerichte in letzter Instanz über einen konkreten Fall entschieden haben. Erst dann kann man überhaupt einen "öffentlichen Frieden" stören, was eine ausdrückliche Strafbestandsvoraussetzung ist, wenn dieser öffentliche Frieden eingekehrt ist. Eine solche Voraussetzung ist eben nicht gegeben, wenn man sich in eine laufende Debatte einschaltet, wenn noch so gut wie alles an relevanten Umständen für eine abschließende Beurteilung im Dunkeln liegt und Gegenstand widerstreitender Darstellungen ist. 

Und auch dann sollte nicht das Abstreiten der Tat oder das Äußern einer abweichenden rechtlichen Auffassung unter Strafe gestellt werden, sondern das Begrüßen einer Straftat als Straftat, mit dem ihr innewohnenden Unrechtsgehalt. Was ausdrücklich nie unter den genannten Paragraphen fallen sollte, war die Debatte darüber, ob bestimmte Gruppen von Taten oder Debatten über zeitgeschichtliche oder historische Ereignisse von allgemeiner Bedeutung zu Recht unter Strafe stehen. Eine sachliche und nüchterne Meinungsäußerung kann den öffentlichen Frieden im Geltungsbereich des Grundgesetzes und seines Artikels 5 ohnehin nicht stören. 

Die Rede vom 22. Juni ist als Videoaufzeichnung im Internet verfügbar. Neben einer Aufzählung historischer Tatsachen zum Zweiten Weltkrieg, die kaum Stein des Anstoßes sein können, wird in der Rede deutschen Politikern und Medien ein hohes Maß "an Scheinheiligkeit und Lügen" beschieden. 

Mit Blick auf den Sieg des "Euro-Maidan" in Kiew im Februar 2014 sagte Bücker: 

"Das im Frühjahr 2014 durch einen Putsch in der Ukraine installierte rechtsradikale Regime hat intensiv daran gearbeitet, eine faschistische Ideologie in der Ukraine zu verbreiten. Der Hass gegen alles Russische wurde permanent genährt und hat zugenommen. Die Verehrung rechtsextremistischer Bewegungen und ihrer Führer, die mit den deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg zusammengearbeitet haben, hat immens zugenommen, beispielsweise für die paramilitärische Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die den deutschen Faschisten bei der Ermordung Abertausender Juden half, und für die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die Zigtausende von Juden und Angehörige anderer Minderheiten ermordet hat." 

Auch das sind allgemein bekannte Tatsachen, auf die von der Meinungsfreiheit gedeckte Wertungen (wie etwa "faschistische Ideologie") gestützt werden können, auch wenn große Teile des deutschen Mainstreams die Tatsachen lieber verschweigen, um heute nicht in Erklärungsnot zu kommen.

Im Laufe der Rede werden die vorstehend zitierten Thesen mit konkreten, überprüfbaren Tatsachen konkreter Verehrung von Nazi-Größen in der modernen Ukraine untermauert. 

"Nie wieder dürfen wir als Deutsche an einem Krieg gegen Russland in irgendeiner Form beteiligt sein. Wir müssen uns zusammenschließen und uns diesem Irrsinn gemeinsam entgegenstellen."

Für die russische militärische Operation in der Ukraine äußert der Friedensaktivist weder Begeisterung noch Unterstützung. Er appelliert lediglich, man müsse versuchen, die russischen Beweggründe dafür zu verstehen. Diese Pflicht, sich als Deutscher ernsthaft mit der russischen Sicht auf die heutige Lage auseinanderzusetzen, leitet Bücker daraus her, dass die Sowjetunion – und später Russland – nach 1945 auf Rache verzichteten und versuchten, ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zu Deutschland aufzubauen:

"Die Russen wollen ungestört in ihrem Land und mit anderen Völkern leben, ohne ständig von westlichen Staaten bedroht zu sein, weder durch den unablässigen militärischen Aufmarsch der NATO vor den Grenzen Russlands noch indirekt durch den hinterhältigen Aufbau eines Antirusslands in der Ukraine unter Ausnutzung historischer nationalistischer Irrtümer."

Damit hat Bücker einen Satz formuliert, den sicherlich jeder Bürger Russlands wird unterschreiben wollen und der die tatsächlichen und offen kommunizierten Motive des russischen Vorgehens in der Ukraine korrekt auf den Punkt bringen. Es bedarf eines erheblichen Zynismus, in dieser Ablehnung der schleichenden westlichen Expansion eine "Belohnung oder Billigung" eines Angriffskrieges sehen zu wollen. 

Auch in der "Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine", die am 6. März veröffentlicht wurde, wird zwar eine historische Betrachtung der Entwicklungen, die zum gegenwärtigen Konflikt geführt haben, vorgenommen, eine Billigung des Kriegs ist darin jedoch ebenfalls nicht enthalten. Wer sie so auslegen will, der will im Grunde genommen nur eines: den § 140 StGB als Repressionskeule missbrauchen, um jede Diskussion über zeithistorische Entwicklungen und Ereignisse zu unterbinden. Derjenige hat schlicht das Grundgesetz und die Bedeutung der Meinungsfreiheit wissentlich oder unwissentlich nicht richtig verstanden. Eine strafrechtliche Bewehrung abweichender Auffassungen zu historischen Ereignissen kann – wenn überhaupt – nur und erst dann gegeben sein, wenn alles mehrfach und allseitig diskutiert wurde und sich Jahre, Jahrzehnte nach dem Ereignis eine gefestigte Mehrheitsüberzeugung gebildet hat. Und selbst dann wäre ein Debattentabu immer noch in höchstem Maße bedenklich und für eine freiheitlich-demokratische Ordnung systemwidrig.

Ähnlich sieht das auch Heinrich Bücker selbst. In seiner jetzt veröffentlichten Erklärung beklagt er diese "Verengung des Debattenraums":

"In Deutschland erleben wir derzeit eine Verengung des Debattenraums und massive Einschränkungen der Meinungsfreiheit – bedingt durch einseitige Berichterstattung der bürgerlichen Medien. Insbesondere auch durch gesetzliche Vorgaben, wie den neu hinzugekommenen Absatz 5 des § 130 StGB (Volksverhetzung), mit dem nicht staatskonforme Auffassungen beispielsweise zum Krieg in der Ukraine kriminalisiert und strafrechtlich verfolgt und mit der Holocaustleugnung rechtlich auf eine Stufe gestellt werden können – ebenso wie der bereits bestehende § 140 ('Belohnung und Billigung von Straftaten')."

Es bleibt die schwache Hoffnung, dass die Justiz noch Klarsichtigkeit und Rückgrat hat, sich dem politischen Druck zu widersetzen und dem Grundgesetz gebührend Geltung zu verschaffen.

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