Felicitas Rabe im Interview mit dem Organisationspsychologen Michael Ley
Mit einem Abschiedsbrief, den er hinter Glas in einem goldenen Bilderrahmen im Schaufenster ausstellte, verabschiedete sich im Oktober 2022 der Bäcker Schlechtrimen von seinen Kunden im Kölner Stadtteil Kalk.
Im öffentlichen Schaufensterbrief ließ er noch einmal Revue passieren, wie die Bäckerei bei vielen Taufen, Hochzeiten, Kommunionen und Beerdigungen im Laufe ihres fast hundertjährigen Bestehens mit ihren Backkünsten zu den Familienereignissen in Kalk beigetragen hatte. Der Bäcker gedachte der mit den Menschen des Stadtteils verwobenen Geschichte dieses Kölner Handwerksbetriebs seit seiner Gründung, der neben schönen auch schon schwere Zeiten überstanden hatte.
Nicht alle Handwerksbetriebe, die dieser Tage Konkurs anmelden und ihr Geschäft aufgeben, ehren zum Abschied noch einmal ihr Wirken und ihren Anteil am kulturellen Leben in der Gesellschaft wie der Bäcker Schlechtrimen in Köln:
"Ich war gern Teil Ihrer Taufen, Kommunionen, Hochzeitsfeiern und Geburtstage", liest man im Schaufenster des Bäckers. "Zu Ostern haben mir die Kalker Blumen, Kerzen und Marienbildchen vor die Tür gestellt."
Seit dem Mittelalter prägt das Handwerk unsere Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei geht es nicht nur um die Produkte, die das Handwerk herstellt. Das Handwerk hat auch Einfluss auf die Entwicklung des Bildungswesens, auf die Entwicklung von Technik und Wissenschaft und das moderne Arbeitsethos, das in unserer Gesellschaft angetroffen werden kann.
Die Geschichte des Handwerks in der deutschen Kultur
Im Interview mit dem Organisationspsychologen Michael Ley fragte RT nach, welche Stellung das Bäckerhandwerk in der Prägung von Kultur und Gesellschaft in Deutschland einnimmt. Der Psychologe betonte dabei insbesondere die Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen – das Handwerk habe auch eine soziale Komponente. Es sei nach bestimmten Regeln organisiert und stelle damit ein Muster für die Organisation des menschlichen Zusammenlebens zur Verfügung. Wenn das Handwerk verschwinde, dann gehe etwas verloren, was für das Leben in der menschlichen Gemeinschaft von großer Bedeutung sei.
Ley wies zunächst darauf hin, dass es das Handwerk in der Geschichte der Menschheit in der einen oder anderen Form immer schon gegeben habe. Brot gehöre zu den Grundnahrungsmitteln der Menschen, aber auch zu den Existenzbedingungen einer Kultur, die sesshaft geworden sei. Das Handwerk habe den Übergang in die Sesshaftigkeit auf entscheidende Weise mitgetragen.
Insbesondere hätten sich dabei Haltungen und Einstellungen geändert, die für die Produktion landwirtschaftlicher Güter erforderlich gewesen seien. Die Menschen seien beispielsweise gezwungen gewesen, die Natur zu beobachten oder sich klarzumachen, welchen Einfluss ihre eigenen Eingriffe in die Natur haben. Vor allem hätten sie aber auch angefangen, technische Instrumente zur Bewirtschaftung des Bodens oder zur Verarbeitung der Ernte zu entwickeln.
Im ausgehenden Mittelalter sei eine neue Entwicklung aufgekommen, nämlich der Zusammenschluss von Handwerken zu Vereinen oder Zünften. Das Handwerk habe dadurch einerseits seine Interessen besser durchsetzen und zu einem politischen Machtfaktor werden können. Auf der anderen Seite seien aber auch viele Dinge offiziell festgelegt worden, die für die Ausübung eines Handwerks erforderlich seien. Dazu gehörten beispielsweise konkrete Arbeitsschritte bei der Herstellung handwerklicher Produkte, die Ausbildung des Nachwuchses oder das Rechtsverhältnis zu den Auftraggebern.
Mit der formalen Ordnung des Handwerks sei aber auch eine innere Einstellung zur Arbeit geprägt worden, so etwas wie eine "Moral" oder ein "Ethos" des Arbeitens. Seit der Gründung der Zünfte unterscheide man zwischen Wochentagen, in denen wir uns auf die Arbeit konzentrieren, und Wochenenden, an denen es etwas freier zugehen könne. Die Verpflichtung auf ein bestimmtes Maß, vorgegeben durch die Arbeit, sei Ley zufolge eindeutig eine Erfindung des "zünftigen" Handwerks.
Die handwerkliche Einstellung zur Arbeit
Der Psychologe verwies in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten des Soziologen Richard Sennett in "The Craftsman" aus dem Jahr 2008 (in der deutschen Ausgabe "Handwerk" betitelt). Sennett habe die handwerkliche Einstellung dem Wunsch zugeordnet, "eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen". Dieser Gedanke stecke bereits in dem Namen, den sich das Handwerk gegeben habe: Etwas in ein "Werk" setzen bedeute, unterschiedliche Wirkungen so aufeinander zu beziehen, dass daraus ein Ganzes wird.
Ein guter Handwerker begnüge sich Sennett zufolge daher nicht damit, vorgestanzte Teile zusammenzufügen. Die Kunst des Handwerks habe vielmehr damit zu tun, sich auf die Eigenlogik eines bestimmten Materials einzulassen und dieses gleichzeitig so zu formen, dass daraus etwas Neues entstehe.
Entsprechend sei der Handwerksberuf für viele nicht nur ein "Job" zum Broterwerb, sondern auch so etwas wie eine Lebensaufgabe, beschrieb Ley die Philosophie der Handwerkerarbeit. Der Handwerker identifiziere sich in persönlicher Weise mit seinem Werk und erfahre darin einen Lebenssinn.
"Der Meister ist nicht nur jemand, der sein Handwerk souverän beherrscht, sondern auch jemand, der aus seiner Arbeit eine 'Berufung' gemacht hat", erklärte der Psychologe.
Eine solche Einstellung bewundere man auch an anderen Stellen des Alltags. Einige Menschen führen nach einem harten Arbeitstag im Büro oder der Fabrik noch zum Baumarkt. Dort besorgten sie Material, um sich nach Feierabend noch handwerklich zu betätigen. Nach Leys Ansicht verdankten die Baumärkte ihr Geschäft der Tradition des deutschen Handwerks und dem Bedürfnis, Dinge im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen:
"Die Menschen wollen basteln und tüfteln, denn dabei können sie Zusammenhänge be-greifen, die ihnen an vielen Stellen des Alltags längst entglitten sind."
Soziale Strukturen und Lebenszusammenhänge werden entkoppelt
Ley glaubt, die gegenwärtige Krise des Handwerks sei nicht nur der Inflation oder den steigenden Energiepreisen geschuldet. In der Vergangenheit hätten Konzentrationsprozesse zugunsten großer, überregionaler Betriebe stattgefunden. Gleichzeitig sei die Produktion in erheblichem Umfang auf standardisierte und automatisierte Verfahren umgestellt worden.
Die spezifischen Fähigkeiten des Handwerks gingen dabei verloren. Die Mitarbeiterin, die Brot oder die Brötchen in den Backautomaten schiebe, müsse nichts über die Konsistenz des Teiges oder die dabei verwendeten Zutaten wissen.
Parallel dazu verändere sich die soziale Struktur in den Unternehmen. In alten Familienbetrieben seien soziale Strukturen viel persönlicher gewesen, als in einer Backkette. Der Psychologe bezeichnete diese Vorgänge als "Entkoppeln" von Prozessen, die ursprünglich zusammengehörten. Das Entkoppeln finde sich in vielen Bereichen der Gesellschaft statt und gehöre zu den zentralen Erscheinungen der Gegenwartskultur. Die Zerteilung von Lebenszusammenhängen zeichne unsere Kultur gerade aus, so Ley:
"Wir sind heute nicht mehr Meister im Ins-Werk-Setzen, sondern im Trennen und Entkoppeln von Lebenszusammenhängen."
Beim Handwerk habe diese Tendenz schon lange vor der gegenwärtigen Krise zu erheblichen Problemen geführt. Nach Ansicht des Psychologen hingen Fluktuation und Fehlzeiten immer auch mit Bindungsproblemen in der Organisation eines Unternehmens zusammen. So sei ein Fachkräftemangel auch fehlenden Bindungskräften in Betrieben geschuldet, die jungen Menschen in schwierigen Zeiten weniger Perspektiven vermittelten.
Mit dem Handwerk verschwindet ein Teil der deutschen Kultur
Nach Ansicht des Psychologen leide das Handwerk zudem an einer Auszehrung struktureller Energien. Es habe an Stärke verloren, weil ihm sei das Geschäftsmodell entzogen worden sei, auf dem seine Leistungsfähigkeit seit Jahrtausenden beruht habe.
In der Vergangenheit habe die Gesellschaft neben der Industrieproduktion auch die handwerklichen Produktionsformen zugelassen. Die gegenwärtige politische und wirtschaftliche Situation werde Ley zufolge offenbar zum Anlass genommen, dem Handwerk diese Unterstützung zu entziehen. Es drohe die Gefahr einer Monokultur, in der neben den Traditionen auch das Arbeitsethos des Handwerks endgültig verloren gehen könnte.
Viele Menschen bekämen die Konsequenzen eines solchen Verlustes hautnah mit. Sie sorgten sich nicht nur um die Schließung eines bestimmten Betriebes. Schließlich werde damit eine wichtige Perspektive für die Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse unwiderruflich aufgegeben:
"Wir spüren, dass hier eine ganze Welt zu Ende geht, die von zentraler und gleichzeitig existentieller Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen ist. Wenn der Bäcker geht, dann verschwindet ein Stück Kultur- und Menschheitsgeschichte, aber auch ein Muster dafür, wie die Menschen in einer Gesellschaft gemeinsam arbeiten und leben wollen."
Michael Ley ist Professor für Organisationspsychologie (FH) und Geschäftsführer des Instituts für qualitative Bildungsforschung (IQ Bildung) in Köln. Er forscht und veröffentlicht zu gesellschaftlichen Fragen im Bereich von Schule, Hochschule und Kultur. Die Webseite des IQ Bildung findet sich hier: https://www.iqbildung.de/
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