In den letzten Monaten wurde der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wegen seiner Tätigkeit für russische Gaskonzerne und für seine russlandfreundliche Haltung stark kritisiert. Nun hat er in einem Gastbeitrag in der Berliner Zeitung dargelegt, warum ein Friedensplan für die Ukraine notwendig ist. Gleich zu Beginn des Beitrags weist Schröder darauf hin, dass "Krieg immer falsch" sei:
"Er bringt mit jedem Tag mehr Leid, Elend, Tod und Zerstörung. Und mit jedem Tag wächst das Risiko, dass er eskaliert und sich ausweitet. Auch der Krieg in der Ukraine. Carl von Clausewitz hatte recht mit seiner Warnung: Der Krieg hat keine Grenzen in sich."
Deshalb sei es das Wichtigste, Frieden zu schaffen, so Schröder. Konkret bedeute dies für die Ukraine: "Waffenstillstand, Verhandlungen über ein dauerhaftes Friedensabkommen zwischen den Kriegsparteien sowie eine stabile Friedensarchitektur in Europa". In diesem Zusammenhang weist Schröder darauf hin, dass Diplomatie und Frieden und nicht die Sprache des Militärs die Entwicklungen bestimmen müssen und verweist dabei auch auf Helmut Schmidt, der einst sagte:
"Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen."
Dies betreffe nicht nur die Kriegsparteien, sondern ganz Europa. Der Krieg in der Ukraine sei zudem kein "regionales Drama" mehr, sondern habe längst geostrategische Dimensionen angenommen und betreffe auch Energie, Lebensmittel und Lieferketten. Schröder verweist darauf, dass man sich in einem historischen Schlüsselmoment befinde:
"Erneut erlebt die Menschheit ein 'Jahrzehnt der Extreme'. Es begann mit der weltweiten COVID-19-Pandemie, dann kam es zum Krieg in der Ukraine unter dem Atomschirm Russlands. Das ist ein Krieg direkt an der Grenze zur NATO, der sogar eine atomare Katastrophe auslösen kann. Und schon in wenigen Jahren wird die Welt die Wucht der Klimakrise immer härter zu spüren bekommen, denn die globale Erwärmung wird die 1,5-Grad-Grenze überschreiten und sich damit den gefürchteten Kipppunkten im Erdsystem nähern, an denen die Schädigungen der Klimazonen in großen Weltregionen schnell außer Kontrolle geraten können."
Man befinde sich im "gefährlichsten Jahrzehnt seit dem Zweiten Weltkrieg", so der Ex-Kanzler. Die Summe der Krisen sei beängstigend.
Nach dem Ende des Kalten Krieges habe es eine Chance auf eine neue europäische Friedensordnung gegeben. Diese wurde jedoch nicht genutzt, "auch weil sie von wichtigen NATO-Partnern, vor allem den USA, nicht gewollt wurde". Schröder kritisierte in diesem Zusammenhang auch die NATO-Osterweiterung, vor der neben Frankreich und seiner Amtsnachfolgerin Kanzlerin Angela Merkel auch Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush warnten. Dies sei keine Rechtfertigung, gehöre aber zur Vorgeschichte:
"Die Ukraine hat für Russland eine herausragende Bedeutung, denn Kultur und Geschichte der beiden Länder sind eng miteinander verbunden. Statt alles vom Ende, nämlich der Bewahrung des Friedens her zu denken, kam es in der gespaltenen Gesellschaft der Ukraine nach den Maidan-Demonstrationen von 2013/14 zu westlichen Waffenlieferungen und zu einer Zuspitzung der Konflikte mit dem russischen Teil der Bevölkerung im Osten des Landes."
Schröder verweist zudem darauf, dass Folgen durch den Krieg und die vom Westen verhängten Sanktionen mittlerweile globale Ausmaße angenommen haben.
"Die Vereinten Nationen kamen bereits im Mai zu der erschreckenden Feststellung, dass mindestens 107 Länder mit 1,7 Milliarden Menschen von den Folgen des Krieges und der Sanktionen betroffen seien: mit der sich zuspitzenden Energiekrise, den steigenden Lebensmittelkosten und den verschlechterten Finanzbedingungen. Engpässe bei wichtigen Rohstoffen nehmen zu, globale Lieferketten sind gestört."
Der ehemalige Kanzler weist auch darauf hin, dass der Krieg die Spaltungen in der Welt vertiefe: Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit vertrete gut 40 Prozent der Weltbevölkerung und lehne die Sanktionen ebenso ab wie die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Insbesondere China und Indien seien die bevölkerungsreichsten Länder der Erde:
"Sie verfügen über eine große Bedeutung in der Rohstoffpolitik, gewinnen technologisch stark an Einfluss und arbeiten an einer Abkehr vom Leitwährungssystem des US-Dollars. Der Ukraine-Krieg lässt befürchten, dass speziell Europa nicht nur ein Problem mit Russland hat, sondern auch zum Verlierer der globalen Machtverschiebungen und ihrer Folgen wird."
Schröder erklärt ebenfalls, dass die ersten Versuche, auch vor Kriegsbeginn, wie das Minsk-I-Abkommen sowie der Nachfolger Minsk II scheiterten. Zu weiteren Verhandlungen schrieb er:
"In Istanbul legte die ukrainische Delegation am 29. März 2022 einen 10-Punkte-Vorschlag für Sicherheitsgarantien vor, der nahe einer Einigung war. Der weitere Kriegsverlauf, auch die umfangreichen Waffenlieferungen und laut ukrainischen Medienberichten westliche Interventionen in Kiew waren für einen Abbruch dieser aussichtsreichen Verhandlungen ausschlaggebend."
Im Mai legte Italien der UNO einen vierstufigen Friedensplan vor, der einen Waffenstillstand, keinen NATO-Beitritt bzw. die Neutralität der Ukraine, die Selbstbestimmung in territorialen Fragen und einen internationalen Sicherheitspakt unter dem Dach der OSZE vorsah. Im Juni erarbeitete eine internationale Expertengruppe unter dem US-Ökonomen Jeffrey Sachs zudem einen Vorschlag für "gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine". In acht Punkten wird darin unter anderem eine militärische Neutralität der Ukraine und internationale Sicherheitsgarantien sowie die Aufhebung der antirussischen Sanktionen, ein multilateraler Wiederaufbaufonds und ein internationaler Überwachungsmechanismus der UNO vorgesehen.
Schröder schließt mit den Worten, dass es statt einer Kriegslogik eine Friedenslösung geben müsse:
"Das ist im Interesse Europas, ja im Interesse der Selbstbehauptung Europas in einer Welt, die sich in einem tiefen Umbruch befindet. Wenn der Ukraine-Krieg weiter eskaliert, wie soll dann die Weltgemeinschaft die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit überhaupt noch bewältigen können? Wir haben nur die 'Eine-Welt'."
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