Nicht nur Atomkerne werden hierzulande noch gespalten – am Thema Atomkraft scheiden sich noch immer die Geister. Während die Unionsparteien vielstimmig nach einer Abkehr vom Atomausstieg rufen, setzen Bündnis 90/Die Grünen darauf, zwei der letzten drei noch Elektroenergie erzeugenden deutschen Atomkraftwerke nach der eigentlich bereits gesetzlich verankerten Abschaltung zum Jahresende doch noch bis Mitte April 2023 "in Reserve" zu halten. Damit ernten sie allerdings auch bereits jetzt viel Kritik von Umweltschützern, selbst wenn es dabei um heute fragwürdige Entscheidungen aus dem Jahr 2021 und jetzt konkret "nur" um Brennelemente geht.
Im niedersächsischen Lingen wird, wie bereits auch Anfang des Jahres, wieder eine Lieferung Uran aus Russland erwartet. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) bestätigte aktuell die Transporte von Russland in die Brennelementefabrik im Emsland. Grundlage seien Genehmigungen aus dem Jahr 2021, sagte ein BASE-Sprecher. Die maximal zulässige Anzahl von Transporten sei bisher noch nicht ausgeschöpft. "Es sind also bezüglich dieser Genehmigungen weitere Transporte möglich", sagte der Sprecher. Zuletzt wurde auf Grundlage dieser Genehmigungen Mitte Januar Uran aus Russland nach Lingen geliefert.
Nach Angaben des Bündnisses "Atomkraftgegner_innen im Emsland" (AgiEL) befindet sich das für solche Transporte bekannten russische Schiff "Michail Dudin" mit angereichertem Uranhexafluorid derzeit auf dem Weg vom russischen Sankt Petersburg nach Rotterdam in den Niederlanden. Dort soll es am Sonntag ankommen, die Uransalzladung soll anschließend nach Lingen transportiert werden. Das BASE wollte sich am Donnerstag nicht noch detaillierter zu dem Transport äußern. "Zu Fragen von laufenden Transporten – auch bereits genehmigten – können wir aus Sicherheitsgründen keine Angaben machen", sagte der Sprecher.
Ein Sprecher des Bundesumweltministeriums bestätigte, wenn alles technisch in Ordnung sei, müsse das BASE diese Transporte genehmigen. "Es gibt kein Uran-Embargo auf EU-Ebene", betonte ein Ministeriumssprecher am Donnerstag. Hintergrund sei, dass der Versorgungskanal aus Russland für den Betrieb der europäischen Atomkraftwerke offen bleiben solle.
In Lingen werden seit mehr als 40 Jahren Brennelemente für die nukleare Stromerzeugung in Europa hergestellt. Die Fabrik gehört dem französischen Unternehmen Framatome. Sie beliefert unter anderem Atomkraftwerke in Belgien, Frankreich, der Schweiz, den Niederlanden, Großbritannien, Spanien, Schweden und Finnland.
Zudem steht in Lingen allerdings auch eines der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke, die im Zuge des Atomausstiegs zum Jahresende endgültig abgeschaltet werden sollten. Im Gegensatz zu den zwei Kraftwerken Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg bietet es jedoch eine geringere Produktionskraft für Elektroenergie und steht daher aktuell nicht in der Debatte um eine mögliche Reservehaltung bis zum Frühjahr 2023 für den Fall von Stromengpässen.
Das Bündnis AgiEL fordert seit dem Jahr 2019 auch jeglichen Stopp der Uranlieferungen sowie ein Embargo für AKW-Brennelemente. "Unsere Bundesregierung arbeitet angeblich an der Energie-Unabhängigkeit von Russland und predigt harte Sanktionen", klagte Alexander Vent vom Bündnis. Es passiere jedoch genau das Gegenteil: In Russland angereichertes Uran werde nach Deutschland gebracht und "spüle Putins Staatskonzern Rosatom weiter Geld in die Kriegskasse", so meint Vent.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Die Grünen) sei für diese Transportgenehmigung zuständig. Sie müsse die Genehmigung für den laufenden Transport – etwa für den Nord-Ostsee-Kanal – widerrufen und die Rückfahrt des Schiffes in die Wege leiten. Das Bündnis, das auch eine Stilllegung des Brennelementewerks im Emsland fordert, kündigte eine Demonstration für den 1. Oktober in Lingen an. Im Januar waren einem Demonstrationsaufruf des Bündnisses etwa 150 Personen nachgekommen.
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