Angesichts der sich anbahnenden Energiekrise in Deutschland infolge gedrosselter Gaslieferungen aus Russland hatte der Bundesrat Anfang Juli das Wiederhochfahren bereits geschlossener Kohlekraftwerke gebilligt. Nun soll das erste der in Reserve stehenden Kraftwerke wieder angefahren werden. Wie die Bundesnetzagentur am Montag mitteilte, handelt es sich demnach um das Kraftwerk Mehrum im niedersächsischen Landkreis Peine, das dem tschechischen Energiekonzern EPH gehört.
Mehrum befindet sich seit Anfang Dezember 2021 in der Reserve, erklärte Kathrin Voelkner, die kaufmännische Leiterin der Betreibergesellschaft EPH, der Nachrichtenagentur dpa. " Wir haben die Rückkehr an den Strommarkt erklärt. Wir gehen davon aus, dass wir kurzfristig ans Netz zurückkehren." Mit einer Nettonennleistung von 690 Megawatt ist das Kohlekraftwerk nach Angaben der Betreibergesellschaft demnach dazu in der Lage, den Strombedarf von mehr als 500.000 Haushalten zu decken.
Hintergrund ist eine neue Verordnung der Bundesregierung, die Kraftwerksbetreibern in Deutschland seit dem 14. Juli erneut den Verkauf von Strom aus Reservekraftwerken erlaubt, die mit Steinkohle oder Öl befeuert werden. Mit der Maßnahme soll demnach der Erdgas-Anteil an der Stromerzeugung in Deutschland gesenkt werden, der im Juni laut Bundesnetzagentur noch bei 11,2 Prozent lag. Von der Maßnahme betroffene Kraftwerke können dann bis Ende April 2023 befristet an den Strommarkt zurückkehren. Neben den Steinkohle- und Öl-Kraftwerken sollen nach den Plänen des Bundeswirtschaftsministeriums ab Oktober zudem auch bereits stillgelegte Braunkohlekraftwerke erneut ans Netz gehen dürfen. Hierzu teilte ein Sprecher des Ministeriums vergangene Woche mit:
"Die Verordnung wird aktuell vorbereitet und tritt dann in Kraft, wenn sich abzeichnet, dass noch mehr Gas bei der Stromerzeugung eingespart werden muss."
Lindner will bei Stromproduktion komplett auf Gas verzichten
Das sind Pläne, die Christian Lindner (FDP) jedoch noch nicht weit genug gehen. Mit Blick auf die verringerten Gaslieferungen aus Russland hatte der Bundesfinanzminister am Wochenende gefordert, bei der Stromerzeugung künftig gar komplett auf Gas zu verzichten. "Wir müssen daran arbeiten, dass zur Gaskrise nicht eine Stromkrise kommt", sagte der FDP-Politiker der Bild-Zeitung (Sonntagsausgabe). Deshalb dürfe "mit Gas nicht länger Strom produziert werden, wie das immer noch passiert", so Lindner: "Robert Habeck hätte die gesetzliche Ermächtigung, das zu unterbinden."
Mit seiner Forderung löste der Finanzminister eine Kontroverse innerhalb der Bundesregierung aus. Ein Sprecher des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck (Bündnis 90 /Die Grünen) erwiderte daraufhin, dass ein völliger Verzicht auf Gas im Stromsektor lediglich zur Stromkrise und zu Blackouts führe. "Es gibt systemrelevante Gaskraftwerke, die mit Gas versorgt werden müssen. Bekommen sie kein Gas, kommt es zu schweren Störungen. Das ist leider die Realität des Stromsystems, die man kennen muss, um die Versorgungssicherheit herzustellen."
Deutschland droht der Blackout
Das sind technisch begründete Befürchtungen, mit denen Habecks Sprecher nicht falsch liegt. In Deutschland sind gar nicht viele Faktoren nötig, um beim Zusammentreffen das empfindliche System zum kompletten Absturz zu bringen. Auch wenn Gas vor dem Hintergrund eines möglichen Lieferstopps nicht länger zur Verfügung stehen sollte, muss das europäische Stromnetz stets ausglichen funktionieren. Wird diese Balance nicht durch eine Konstanz bei 50 Hertz Netzfrequenz stabil gesichert, drohen flächendeckend Stromausfälle. Bei einer zu starken Abweichungen der Netzfrequenz vom Idealwert droht sogar der Zusammenbruch der Stromversorgung – ein Blackout.
Sobald wegen eines Unterangebots von Elektroenergie die Netzfrequenz einen Wert von 47,5 Hertz unterschreitet, würden sämtliche Kraftwerke im Einflussbereich dieser Netzschwankung damit beginnen, sich selbstständig abzuschalten – und zwar europaweit. Ein schnelles Wiederhochfahren des komplexen kontinentalen Systems ist dann nicht mehr möglich. Europa wäre zurück in der Steinzeit. Fiele der Strom nur ein paar Tage über mehrere Länder hinweg aus, käme die menschliche Zivilisation schnell an ihre Grenzen, weil etwa die Trinkwasserversorgung zusammenbrechen und die Versorgung auch mit Dieselkraftstoff für die Notstromaggregate problematisch werden würde.
So fühlte sich mit Blick auf die Folgen des Ukraine-Kriegs nicht nur die Bundesnetzagentur mehrfach dazu genötigt, von der Bundesregierung einen Notfallplan zur Energiesicherheit zu fordern. Auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz in Bonn warnt in seiner aktuellen Übersicht mitunter auch deswegen erneut, dass Deutschland eine durch einen Stromausfall verursachte Katastrophe drohe, wenn man das Problem mit der unsicheren Energieversorgung nicht in den Griff bekomme.
Kohlekraftwerksbetreibern winken hohe Gewinne
Und während sich staatliche Behörden und politische Entscheidungsträger derzeit weiter über geeignet erscheinende Maßnahmen streiten, welche die Energiesicherheit Deutschlands sichern sollen, freuen sich die Betreiber von Kohle- und Ölkraftwerken indessen über die zusätzlichen Einnahmequellen, die den Konzernen durch das Wiederanfahren der zuvor stillgelegten Kraftwerke winken. Wieder mehr Strom verkaufen will deshalb auch der Essener Energiekonzern Steag. Man habe die "feste Absicht", mit 2.300 Megawatt Erzeugungsleistung in den Markt zurückzukehren, erklärte Unternehmenssprecher Markus Hennes. Das betreffe zwei Blöcke im Saarland, die bereits in der Reserve sind, und zwei weitere Blöcke im Saarland und in Nordrhein-Westfalen, die Ende Oktober eigentlich stillgelegt werden sollten.
Daneben prüft auch das Düsseldorfer Energieunternehmen Uniper, seine Reserveanlagen, die zusammen über eine Leistung von insgesamt mehr als 2.000 Megawatt verfügen, wieder ans Netz anzuschließen. Noch sei aber keine Entscheidung gefallen, sagte Unternehmenssprecher Oliver Roeder. "Leider kann auch momentan nicht gesagt werden, wann es zu einer Entscheidung kommt, da unter anderem noch technische, organisatorische und betriebswirtschaftliche Probleme zu lösen sind." Das Wiederanfahren für mehrere Monate ist für Kraftwerksbetreiber deshalb wirtschaftlich so interessant, weil auf dem Markt derzeit hohe Preise im Strom-Großhandel herrschen. Gleichzeitig ist ausreichend Steinkohle auf dem Weltmarkt vorhanden, was den Betreibern eine hohe Gewinnspanne beim Verkauf ihrer somit recht günstig produzierten Elektroenergie garantiert.
Wiederanfahren der Kraftwerke nicht so einfach wie gedacht
Der Karlsruher Energiekonzern EnBW will seine fünf Reservekraftwerke hingegen nicht zurück an den Markt bringen, da sie aus Altersgründen nicht mehr ununterbrochen laufen könnten. Angesichts der durch die Bundesregierung beschlossenen Zwangsstilllegungen ihrer Kraftwerke vor wenigen Jahren sahen sich viele Kraftwerksbetreiber damals zudem gezwungen, den ihnen daraus entstandenen wirtschaftlichen Schaden zu mindern. Es folgten deshalb Entlassungen, und diverse für den Betrieb der Anlagen benötigte Teile wurden ins Ausland verkauft. Ein kurzfristiges Hochfahren ihrer Kraftwerke ist vielen Betreibern schon allein deshalb heute nicht mehr möglich.
So hatte der Energiekonzern Vattenfall bereits Anfang Juli angekündigt, sein stillgelegtes Kohlekraftwerk Moorburg – im Gegensatz zu den Forderungen der Bundesregierung – nicht wieder anzufahren. "Als Kohlekraftwerk darf es nach den geltenden Regularien nicht mehr betrieben werden, und es wäre technisch und wirtschaftlich auch nicht vernünftig darstellbar", hatte eine Sprecherin von Vattenfall der dpa vor wenigen Wochen erklärt. Deshalb bereite Vattenfall auch weiter den Rückbau des Kraftwerks im Hamburger Hafen vor. Die noch rund 90 Beschäftigten im Kraftwerk hätten demnach bereits damit begonnen, die Systeme zu entleeren, so die Sprecherin weiter. Zudem seien bereits Ersatz- und Reserveteile des Kraftwerks sowie Großkomponenten von Turbinen, Generatoren, Transformatoren und Messeinrichtungen verkauft worden. Ohne diese Teile sei ein Wiederanfahren des Kraftwerks ohnehin nicht möglich.
Daneben steht den Plänen der Bundesregierung auch ein gravierender Mangel an Fachkräften entgegen, da diese im Zuge der Schließungen etwa in Frührente geschickt wurden oder ihnen gekündigt werden musste. Angesichts der akuten Lage stößt auch dies nun bitter auf. Somit ist fraglich, ob das Wiederhochfahren von einigen Kohle- und Ölkraftwerken den drohenden Blackout überhaupt noch verhindern kann. Zwar konnten flächendeckende Stromausfälle bisher noch verhindert werden, allerdings nur knapp. Bis zur derzeitigen Eskalation des Ukraine-Kriegs konnte Deutschland mehr als ein Drittel des hierzulande benötigten Energiebedarfs durch Importe aus Russland decken.
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