von Susan Bonath
Beim Verharmlosen und Kleinrechnen von mutmaßlichen Impfnebenwirkungen sind die Bundesregierung und ihre Institutionen außerordentlich spitzfindig. Immer wieder verbreitete das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) offenkundige Falschmeldungen zu diesem Thema, so auch jüngst an diesem Mittwoch. Das BMG behauptete in mehreren sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook, das Risiko einer schwerwiegenden unerwünschten Nebenwirkung nach einer Corona-Impfung sei "sehr gering". Es liege lediglich bei 0,02 Prozent. Damit treffe es etwa einen von 5.000 Geimpften. Doch das stimmt nicht. In Wahrheit ist die Melderate fast dreimal so hoch. Und auch in anderer Hinsicht sind die Daten problematisch.
Nach massiver Kritik von Nutzern der sozialen Medien hat das BMG seinen Beitrag Donnerstag nachmittag entfernt und ohne die fehlerhafte Schlussfolgerung neu eingestellt.
Verwirrspiel mit Impfdosen und Geimpften
Der Teufel steckt im Detail. Das BMG bezieht sich auf das ihm unterstellte Paul-Ehrlich-Institut (PEI), das die Meldefälle zusammenträgt. Dieses schreibt in seinen Berichten von 0,2 gemeldeten schwerwiegenden Nebenwirkungen pro 1.000 verabreichten Impfdosen. Das bedeutet, eine solche Meldung kam demnach auf 5.000 Einzelimpfungen. Das PEI drückt sich dazu klar aus. In seinem jüngsten Bericht bis Ende März dieses Jahres heißt es wörtlich:
"Die Melderate betrug für alle Impfstoffe zusammen 1,7 Meldungen pro 1.000 Impfdosen, für schwerwiegende Reaktionen 0,2 Meldungen pro 1.000 Impfdosen."
Problem: Die Menschen wurden und werden mehrfach gegen das Coronavirus geimpft. Man kann diesen Vergleich zwischen Impfdosen und Meldefällen somit nicht auf die geimpften Personen beziehen, weil die Zahl der Geimpften viel geringer ist als die Zahl der Impfungen. Das müsste man im Ministerium eigentlich wissen. Trotzdem tat das BMG genau das.
Es kommt noch dicker: Nachdem einige Facebook-Kommentatoren das BMG auf diesen groben Patzer hingewiesen hatten, räumte es den Fehler dort sogar ein – allerdings nicht etwa in seinem Beitrag, wo es allen Lesern sofort auffallen könnte, sondern inmitten der Kommentarspalte. Dort sucht vermutlich kaum einer. Seine offenkundig falsche Schlussfolgerung war noch 15 Stunden später im Hauptbeitrag zu lesen.
Auch PEI rechnet Fallzahlen klein
Nun ist auch die abstrakte Darstellung des PEI (0,2 schwere Meldefälle pro 1.000 Impfdosen) sehr ungenau und zugleich ungeeignet für eine verständliche Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Laut jüngstem PEI-Bericht wurden bis Ende März rund 172 Millionen Impfdosen verabreicht. 0,2 Promille bzw. 0,02 Prozent davon würden 34.400 Meldefälle von schwerwiegenden Schäden ergeben. Eine konkrete Zahl nennt das PEI diesmal, anders als in vorangegangenen Berichten, nicht.
Auf Anfrage und mehrfaches Nachhaken der Autorin hatte PEI-Sprecherin Susanne Stöcker gegenüber der Autorin per Mail Anfang Juni allerdings eine höhere Anzahl an Meldungen eingeräumt. Sie schrieb:
"Bis zum 31.03.2022 wurden dem PEI insgesamt 36.870 Verdachtsfälle von schwerwiegenden Nebenwirkungen im Zusammenhang mit einer COVID-19 Impfung berichtet."
Das sind immerhin rund 2.400 Fälle mehr, als man der (ungenauen und lückenhaften) Berichterstattung des Instituts entnehmen konnte. Das PEI hat in seinem Papier demnach kräftig abgerundet. Allein die Tatsachen, dass es seit einiger Zeit keine direkten Zahlen mehr angibt, sondern abstrahiert, und dass es mit abgerundeten Angaben die tatsächliche Zahl dieser Meldungen nach unten manipuliert, wirft die Frage auf, ob Absicht dahinterstecken könnte.
Dreimal mehr Meldungen, als BMG suggeriert
Um zu wissen, auf wie viele Geimpfte sich diese schwerwiegenden Meldefälle nun beziehen, kann man beim Robert Koch-Institut (RKI) nachsehen. Dieses berichtete am 31. März 2022 von knapp 63,7 Millionen mindestens einmal geimpften Personen in Deutschland. Teilt man nun die Anzahl der Geimpften durch die 36.870 Meldungen, die in diesem Zeitraum beim PEI eingingen, ergibt sich ein angezeigter Verdachtsfall für eine schwerwiegende Nebenwirkung pro 1.728 Geimpften. Das sind fast dreimal mehr Meldefälle, als das BMG in seiner Schlussfolgerung suggeriert.
Da das BMG die Fehler in einem Kommentar nunmehr einräumte, müsste es nun auch in der Lage sein, den Fehlschluss in seinem Beitrag zu erkennen. Das heißt, es sollte spätestens nach der Erkenntnis, dass man Impfdosen mit Geimpften verwechselt hat, zu dem Ergebnis kommen, dass eben nicht "nur" einer von 5.000 Menschen betroffen ist, sondern fast dreimal so viele.
Fehlende Untersuchungen
Doch es gibt noch ein weiteres Problem: Es handelt sich bei den PEI-Zahlen lediglich um reine Verdachtsmeldungen. Weder wurden diese Fälle sämtlich klinisch untersucht, noch gibt es wissenschaftliche Studien zur tatsächlichen Anzahl schwerer Impfnebenwirkungen.
Das PEI selbst teilte der Autorin bereits mehrfach mit, es sei nicht dessen Aufgabe, selbst Untersuchungen einzuleiten. Hierfür seien ausschließlich die Behörden vor Ort zuständig. Das PEI frage lediglich bei Bedarf nach. Bei wie vielen Fällen es nähere Informationen eingeholt hat, bleibt hierbei im Dunkeln. Man weiß also weder, in wie vielen Fällen ein tatsächlicher Zusammenhang mit der Impfung naheliegt, noch wie hoch die Dunkelziffer an Fällen ist, die gar nicht gemeldet werden. Frühere Studien haben ergeben, dass nur etwa ein bis zehn Prozent aller Nebenwirkungen durch Arzneimittel angezeigt werden.
Auch bei den Corona-Impfungen könnte die Dunkelziffer hoch sein. Ein Bericht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hatte kürzlich ergeben, dass allein im Jahr 2021 fast 2,5 Millionen Patienten von Kassenärzten wegen einer mutmaßlichen Impfnebenwirkung behandelt wurden. Zu erkennen war dies an den Kodierungen bei der Abrechnung der Behandlungsfälle. Das sind etwa zehnmal mehr, als beim PEI in diesem Zeitraum gemeldet wurden. Obendrauf kämen sogar noch Fälle bei Patienten von Privat- oder Betriebsärzten sowie Betroffene, die gleich in ein Krankenhaus kamen.
Verhindert die Politik valide Forschung?
Kritiker warfen nun das Argument in den Raum, dass Menschen wohl auch wegen Kopfschmerzen oder der berühmten Schmerzen an der Einstichstelle ihren Hausarzt aufgesucht haben könnten. Diese Behauptung entbehrt allerdings jeder wissenschaftlichen Evidenz. Solange die KBV-Daten nicht näher untersucht werden – und das sollen sie offenbar nicht –, kann niemand valide Aussagen zur Schwere der Fälle treffen.
Um das tatsächliche Ausmaß an Impfnebenwirkungen und deren Schwere ansatzweise beziffern zu können, bräuchte es wissenschaftliche Studien mit geimpften Personen, die sich repräsentativ auf die Bevölkerung in Deutschland übertragen ließen. Doch genau das passiert bisher nicht. Anscheinend sind solche Studien politisch nicht gewollt, andernfalls hätte man sie längst finanzieren und durchführen können – und müssen.
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