Politikwissenschaftler Münkler: Haben mit Ukrainekrieg Höhepunkt unseres Wohlstands überschritten

In einem Interview gibt Herfried Münkler Erstaunliches zum Ukraine-Krieg zum Besten: Demnach steht Kiew "im Begriff, ihn zu verlieren". Die Folgen schätzt er dramatisch ein: "Wir erleben jetzt, dass wir den Höhepunkt unseres Wohlstands auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hin überschritten haben."

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen der Bundesrepublik und als regierungsnah. Im Interview mit der Welt sprach er am Donnerstag einige für die Bundesregierung und die hiesigen Bürger unbequeme Wahrheiten bezüglich des Ukraine-Krieges und seiner Folgen aus.

Münkler wurde auch mit Aussagen des Transatlantikers und Lobbyisten Ralf Fücks konfrontiert, dem Initiator eines offenen Briefes, der Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine fordert. Über Münkler bemerkte Fücks abfällig, dieser habe "den teilnahmslosen Blick eines Ameisenforschers" auf den Krieg und reduziere internationale Politik auf einen "Mechanismus von Macht". Darauf erwiderte der 70-Jährige:

"Ich habe mich in dem Interview als Wissenschaftler geäußert, der unterschiedliche Szenarien des zu erwartenden oder möglichen Ausgangs dieses Krieges dargestellt hat. Und dabei ist ein starker Bezug auf eigene Empathie oder eigene politische Präferenzen eher störend. Wenn einige glauben, sie könnten auf der Grundlage eines einzigen Interviews, das sie von seiner Intention und Anlage her nicht erfasst haben, Urteile fällen, dann ist das ihr Problem.

Wäre ich Kampagnenmacher wie Herr Fücks, dann hätte ich mich anders geäußert: Ich hätte alles vergessen, was ich über die suggestive Kraft von Bildern geschrieben habe, über die Bedeutung von Emotionen bei politischen Entscheidungen, über die damit verbundene Form der Blickfeldverengung. Insofern fühle ich mich von der Kritik nicht getroffen, sondern betrachte diese und andere Äußerungen als einen weiteren Ausdruck defizitären strategischen Denkens in Deutschland."

Zur Rolle der Ampel und insbesondere der Grünen und der Kanzlerpartei SPD meinte Münkler:

"Es ist ja sichtbar, dass zum allgemeinen Erstaunen die aus einem forcierten Pazifismus hervorgegangene Partei der Grünen hier mit Verve eine entschiedene Position entwickelt hat, was freilich nicht mehr ganz so überraschend ist, wenn man bedenkt, dass wir sie so ähnlich schon einmal beim damaligen Vizekanzler Joschka Fischer in der Frage eines Eingreifens in die jugoslawischen Zerfallskriege gesehen haben. Wohingegen in Teilen der Sozialdemokratie, die ich als Partei sicherlich von innen am besten kenne, ein Sentimentalpazifismus vorherrscht."

Auf die Frage, ob seine SPD-Nähe "nicht durch die Russlandpolitik der Partei, Stichworte Gerhard Schröder, Manuela Schwesig und Nord Stream 2, erschüttert [wurde]", antwortet Münkler süffisant:

"Sie meinen das Projekt, Russland, das aus der Konkursmasse der Sowjetunion als eine tendenziell revisionistische Macht hervorgegangen ist, in eine europäische Friedensordnung durch wirtschaftliche Verflechtung einzubinden und obendrein durch den Öl-Gas-Deal den Industriestandort Deutschland zu sichern? Es war dies ein Projekt, das den Wohlstand in diesem Land gesichert hat. Wir erleben jetzt, dass wir den Höhepunkt unseres Wohlstands auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hin überschritten haben."

Für den Professor gibt es nach wie vor politische Einflusssphären, die sämtliche Großmächte, die USA, China und eben auch Russland haben. In diesem Kontext betont Münkler:

"Nur politische Traumtänzer leugnen die Realität von Einflusszonen."

Zentral ist für Münkler die Frage, wer die Kontrolle über das Schwarze Meer hat. Neben der Türkei sieht er hier auch Begehren der USA:

"Wer Geopolitik oder Geostrategie in einer historischen Perspektive betrachtet, kennt das Problem Schwarzes Meer mitsamt den Landengen zwischen Bosporus und Dardanellen. Aus westlicher und auch US-amerikanischer Sicht ist das jetzt ein Problem wegen der von Ihnen angesprochenen Exporte von Weizen und damit letzten Endes der Frage von Hungersnöten in aller Welt."

Neue dadurch entstehende Fluchtwellen – die zuletzt vor allem durch die Kriege der USA in Afghanistan, Libyen oder dem Irak verursacht wurden – könnten durchaus Teil eines Kalküls sein, so Münkler. Er meint:

"Wenn man überlegt, dass Hungersnöte Migrationsströme generieren und diese Migrationsströme aus nachvollziehbaren Gründen nicht nach Russland gehen, sondern eher nach Europa, sind sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein Bestandteil der Strategie Putins zur Destabilisierung Europas. Denn er kann mit guten Gründen davon ausgehen, dass Migrationsströme, wenn sie nicht aus der Ukraine kommen, eher destruktiv auf den Zusammenhalt der Europäer wirken."

Am Ende des Interviews fasst Münkler die aktuelle Situation in der Ukraine folgendermaßen zusammen:

"Es kommt jetzt darauf an, politisch dafür zu sorgen, dass der Widerstand der Ukrainer in den ersten 90 Tagen dieses Krieges nicht vergeblich gewesen ist. Denn nachdem zeitweilig eine gewisse Euphorie geherrscht hat, die Ukraine könne diesen Krieg gewinnen und sogar die Russen aus der ganzen Ukraine vertreiben, stellt sich der Krieg jetzt für die Ukraine sehr schwierig dar. Sie steht im Begriff, ihn zu verlieren."

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