Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) hat fast jeder zweite Wahlberechtigte nicht gewählt. Nur 55,5 Prozent der knapp 13 Millionen Wahlberechtigten fanden den Weg zur Wahlurne gefunden oder stimmten per Briefwahl ab. In genaueren Zahlen bedeutet dies, dass sich von den 12,964 Millionen Wahlberechtigten 5,763 Millionen gegen die Möglichkeit einer Stimmabgabe entschieden haben. Eine noch eindeutigere Aussage zum Thema Politikverdrossenheit hatten bis dato nur die Bürger im Bundesland Brandenburg getroffen, wo bei den Landtagswahlen des Jahres 2014 nur 47,9 Prozent eine gültige Stimme abgegeben hatten.
Das eigentlich "ehrliche" oder wahre Wahlendergebnis der Landtagswahlen in NRW, rechnet man das Wahlergebnis auf die Zahl aller wahlberechtigten Bürger im größten Bundesland Deutschlands um, analysierte die Springer-Zeitung Welt. Nach nicht unwesentlicher Berücksichtigung zeigt sich nun als stärkste Partei die "fiktive Partei der Nichtwähler". Das errechnete Real-Endergebnis der Welt lautet daher:
"Auf Basis des vorläufigen amtlichen Endergebnisses liegen die Nichtwähler mit 44,5 Prozent beim 'ehrlichen' Wahlergebnis deutlich vor der CDU mit 20,0 Prozent, die nicht einmal halb so groß ist. Es folgen die SPD mit 15,0 Prozent vor den Grünen mit 10,2 Prozent.
Die FDP und die AfD würden mit jeweils 3,1 Prozent den Einzug in den Düsseldorfer Landtag deutlich verpassen, die Linke mit 1,2 Prozent sowieso. Die sonstigen Parteien kämen zusammen nur noch auf 3,4 Prozent."
In den sozialen Medien kam es noch am Wahlabend zu dem Hashtag #Politikverdrossenheit:
Zu der offensichtlichen Ablehnung individueller Ausgangsgründe der Bürger in NRW stellte die DGB-Landeschefin Anja Weber fest:
"Die dramatisch niedrige Wahlbeteiligung verweist auf erschreckende Defizite unserer Demokratie und ist ein ernstes Warnsignal."
Der Politikprofessor Klaus Schubert von der Uni Münster teilte der Deutschen Presse-Agentur mit, dass nach seiner Ansicht die geringe Wahlbeteiligung "auf eine mangelnde Mobilisierung der Bürger und auf die Kandidaten" zurückzuführen sei. Zwar seien die Gründe für die extrem niedrige Beteiligung "schwer einzuschätzen", es habe aber nicht an einer allgemeinen Wahlmüdigkeit gelegen. Schubert mutmaßte:
"Sie ist spezifisch auf den Wahlkampf der Parteien und auf die Kandidaten zurückzuführen."
Die Westfälische Allgemeine Zeitung (WAZ) titelte exemplarisch: "Im Essener Norden geht kaum jemand wählen". Im Artikel wird präzisiert:
"Der Essener Norden schneidet bei der Wahlbeteiligung besonders schlecht ab. Das war schon bei den vergangenen Wahlen so und hat sich auch bei der Landtagswahl am Wochenende fortgesetzt: In einigen Stadtteilen wie etwa Altenessen-Süd und Vogelheim lag die Wahlbeteiligung bei 35 Prozent."
Peter Wülfing, Vorsitzender der Interessensgemeinschaft Altenessen, wird mit den Worten zitiert:
"Die Menschen fühlen sich vernachlässigt und verlassen."
Ein weiterer Grund für die geringe Wahlbeteiligung, so Darlegungen in dem WAZ-Artikel, könnte "der vergleichsweise hohe Migrationsanteil in den nördlichen Stadtteil" sein. Auswertungen hätten ergeben, "je höher der Migrationsanteil, desto geringer die Wahlbeteiligung". Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge "liegt die Wahlbeteiligung von Deutschen mit Einwanderungsgeschichte zumindest bei Bundestagswahlen etwa zehn Prozent hinter der Wahlbeteiligung von Deutschen ohne Einwanderungsgeschichte. Das liege zum Teil an sprachlichen Barrieren, habe aber auch kulturelle Gründe", so die Vermutungen.
Guido Reil, bekanntes Gesicht aus Essen und seit 2019 EU-Parlamentarier der AfD, erhielt 2017 in Essen-Karnap noch 20,3 Prozent der Stimmen. "Davon sind jetzt noch 13,1 Prozent übrig geblieben", so die Autorin der WAZ. Nach der Landtagswahl kann es nun in Nordrhein-Westfalen zu einer sogenannten Ampelkoalition oder einer schwarz-grünen Regierung kommen, eine Große Koalition gilt eher als unwahrscheinlich. Laut Informationen der Süddeutschen Zeitung nimmt die SPD von einer möglichen Ampelkoalition in NRW jedoch bereits Abstand.
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