Von Anton Gentzen
Am Sonntag, dem 27. Februar 2022, um 15.00 Uhr schloss Deutschland den Luftraum für die russische zivile Luftfahrt. Russland reagierte ohne Verzögerung spiegelbildlich. Nun gibt es, erstmals seit Aufnahme der zivilen Luftfahrt in der Nachkriegszeit, keine direkte Flugverbindung zwischen Berlin und Moskau mehr. Es gibt überhaupt keine direkte Flugverbindung zwischen einer deutschen und einer russischen Stadt.
Möglicherweise entdecken die chinesischen Fluggesellschaften darin bald eine lukrative Marktlücke und bieten Flüge von China nach Deutschland mit Zwischenlandung in Moskau an. Noch ist es nicht so weit. Die derzeit einzige Möglichkeit, von Berlin nach Moskau zu gelangen, ist ein Flug mit Air Serbia. Zeitfaktor – sechs Stunden mit Umsteigen in Belgrad, Kosten über 700 Euro. Das ist doppelt so lang und dreimal so teuer wie vor dem 27. Februar.
Übrigens, eine Zugfahrt ist auch keine Alternative, denn die Russischen Staatseisenbahnen stehen ebenfalls unter EU-Sanktionen.
Und das ist nur ein Beispiel für die Hindernisse, die Deutschland derzeit zwischen den russischen und seinen eigenen Staatsangehörigen, die in gewolltem oder notwendigem Austausch mit dem größten Land Europas stehen, künstlich errichtet. Schwierigkeiten bei den Überweisungen, bei der Versendung von Paketen und Post, beim Empfang von Informationen – wen trifft das alles wohl? Putin?
Wer den derzeitigen hektischen und vielfach selbstschädigenden Sanktionsaktivismus in Deutschland und Europa beobachtet, der nur selten die wirklich Verantwortlichen, in jedem Fall aber Millionen von Menschen trifft, die jedenfalls nicht unmittelbar für die russische militärische Intervention in der Ukraine verantwortlich sind, sollte an die Tage zurückdenken, als die USA völkerrechtswidrig den Irak überfielen. Gab es damals diese orchestrierte Entrüstung, Demonstrationen mit hunderttausenden Teilnehmern? Eine Sanktion gegen die USA oder zumindest ein Sanktiönchen?
Nein, nichts dergleichen. Und das bei keinem der völkerrechtswidrigen Kriege, die die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten jemals angezettelt haben. Ganz im Gegenteil machten sich damals deutsche Völkerrechtler und die deutschen Redaktionsstuben daran, das Völkerrecht umzuschreiben, ein "Recht auf präventiven Erstschlag" zu erfinden und das brüchige Gefüge auf vielfache Weise zu pervertieren, um das Handeln Amerikas zu rechtfertigen.
Mehr noch: Sogar unter den wenigen, die damals in Deutschland auf die Straße gingen und protestierten, hatte niemand auch nur an die Möglichkeit von Konsequenzen gedacht, die derart tiefe Einschnitte in das Leben einfacher Amerikaner und der mit den USA verbundenen Deutschen erzeugen würden. Abschaltung amerikanischer Sender? Einstellung des Flugverkehrs? Boykott amerikanischer Musiker, Kulturschaffender, Sportler und Katzen? Unvorstellbar. Damals wie heute.
Und zwar zu Recht unvorstellbar, denn es gehört zu den Grundlagen eines humanistischen Rechtsverständnisses, dass niemand im Wege kollektiver Schuld für etwas büßen muss, das er nicht getan hat. Kein Bürger, kein Mensch soll für das Handeln "seines" Staates haften. Das war lange Zeit Konsens in der Rechts- und Völkerrechtslehre, nun stehen die Damen und Herren Professoren offensichtlich wieder bereit, die Lehrbücher der politischen Opportunität anzupassen.
In Deutschland leben vier bis fünf Millionen Spätaussiedler, sogenannte Russlanddeutsche, und nochmal ein bis zwei Millionen sonstige Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Ziehen wir da ein bis zwei Millionen Migranten aus der Ukraine ab, sind immer noch vier bis fünf Millionen Menschen in ihrer Lebensgestaltung vom deutschen Sanktionschauvinismus betroffen. Ja, auch die Spätaussiedler, die aus Kasachstan zuwanderten, haben von jetzt an längere und unbequemere Wege in Kauf zu nehmen, wollen sie ihre Freunde und Verwandten in der alten Heimat besuchen oder geschäftliche Kontakte dorthin aufrechterhalten.
Diese vier bis fünf Millionen Menschen leben seit Jahrzehnten hier, arbeiten und zahlen Steuern. Sie sind gewöhnlich still und leise, der deutsche Chauvinismus akzeptiert sie als Dienstleister und Diener, als zuverlässige und anspruchslose Arbeiter, in der Regel auch als Nachbarn. Sobald sie aber versuchen in diesem Land und über dessen Politik mitzureden, kommen Sprüche wie "Warum lebst du hier und nicht bei deinem Putin? Geh doch rüber." Und das ist noch die harmlose Variante.
Die Spätaussiedler haben bis heute, obwohl alle deutsche Staatsbürger sind, keine adäquate Vertretung in der Politik. Sie machen locker fünf Prozent der Wähler aus, und doch gab es lange Zeit nur einen einzigen Bundestagsabgeordneten aus ihren Reihen, und auch heute reichen die Finger einer Hand, um die Aussiedler im Bundestag abzuzählen. Jede andere Migrantengruppe wird in den Parteien von den Grünen bis zur CDU gefördert, für die Spätaussiedler gelten andere, eben chauvinistische und herablassende Maßstäbe in allen deutschen Parteien.
Zu all dem haben sie geschwiegen. Nur einmal regte sich etwas wie Protest und den Schrecken darüber fühlen der deutsche Mainstream und die deutschen Eliten bis heute in den Knochen. Das Feuer konnte damals schnell gelöscht werden, zumal auch der Anlass sich bald als fragwürdig herausstellte. Doch der Anlass war nur der Funken, der den Kessel mit dem über Jahre gewachsenen Unmut fast zur Explosion brachte. Das explosive Gemisch wartet auf einen neuen Funken.
Jetzt treffen die Sanktionen die Kernbereiche des Lebens. Spätaussiedler und andere aus Russland stammende Migranten möchten nach Russland fliegen können, wann immer es ihnen in den Sinn kommt. Sie möchten ihre Verwandten und Freunde hier als Gäste empfangen dürfen. Sie möchten ihre Heimatsender sehen und hören. Ohne Zensur aus Berlin oder Brüssel. Viele von ihnen verdienen ihren Lebensunterhalt mit Handelsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland und möchten diese weiter ungestört ausüben.
Letztlich möchten sie schlicht nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Was sich die Politik bei den Amerikanern in der Stunde des nordatlantischen Unrechts nicht getraut hat, sollte sie auch anderen niemals antun. Jede Ungleichbehandlung reißt Wunden auf. Russlandstämmige wissen bestens, wohin die deutsche Neigung, Menschen und Völker in "Güteklassen" einzuteilen, schon mal geführt hat.
Die Geduld nähert sich dem Ende. Keiner weiß, wann die Quantität der Demütigungen in die Qualität des Aufstandes umschlägt, so gut sind die soziodynamischen Prozesse noch nicht erforscht. Es wäre aber ein fataler Fehler zu bezweifeln, dass der Tag früher oder später kommt, an dem der Kragen platzt.
Hinzu kommt, dass die Russischsprachigen in Deutschland zunehmend nicht nur um Komfort und Gleichbehandlung kämpfen müssen, sondern inzwischen auch an die Verteidigung ihres Lebens und ihrer Gesundheit denken müssen. Die tägliche Hetze gegen Russland in der deutschen Presse und im deutschen Fernsehen erzeugt natürlich eine Pogromstimmung gegen "die Russen" im Land. Bundeskanzler Scholz mag denken, dass er mit ein paar Lippenbekenntnissen in seinen Reden diesen elementaren Mechanismus neutralisiert hat. Es mehren sich aber schon jetzt Meldungen über große und kleine Übergriffe, über Beleidigungen und Anfeindungen. Gastronomen sperren russische Kunden aus, Supermärkte prahlen damit, traditionelle russische Delikatessen aus den Regalen zu nehmen. Schmierereien, Pöbeleien und Sachbeschädigungen sind Vorboten von etwas viel Schlimmerem. Und das ist den Russen in Deutschland bewusst.
Ein russisches Opfer eines von der Bild mit Hass vollgepumpten Deutschen und dieses Land wird Zustände erleben, die es noch nie kannte. Davon sind wir nur einen kleinen Schritt und einen bedauerlichen Zufall entfernt.
Wenn die deutsche Politik weiter so am Propaganda- und Sanktionsrad dreht wie in den zurückliegenden Tagen, wenn sie weiter die zentralen Belange der Spätaussiedler und russischsprachigen Migranten derart missachtet und mit Füßen tritt, werden Millionen Russlanddeutscher und Deutschrussen nicht nur die AfD aus Protest wählen, sondern sich auf noch deutlichere Weise Gehör verschaffen. Auch sie haben die typisch russische Art: Lange, lange, sehr lange still zu dulden und zu leiden. Wenn aber das Maß endgültig voll ist, knallt es umso heftiger.
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