Bedarf an medizinischem Cannabis in deutschen Apotheken: Von acht auf über 9.000 Kilo in zehn Jahren

Deutsche Apotheken verzeichnen eine über 1000-fache Steigerung, bei der Nachfrage nach medizinischem Cannabis in den vergangenen zehn Jahren. Im Vergleich zu gerade mal acht Kilogramm im Jahr 2011 wurden 2021 über 9.000 Kilo an die Apotheken geliefert.

Im Rahmen der Antwort des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) auf eine Kleine Anfrage der Unionsbundestagsfraktion veröffentlichte das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) die seit kurzem vorliegenden Zahlen. So zitiert das RND aus der Antwort des BMG:

"Allein in den vergangenen fünf Jahren hat es demnach deutliche Zunahmen bei der Lieferung von medizinischem Cannabis an Apotheken gegeben – von 163 Kilo im Jahr 2016 auf 994 Kilo im Jahr 2017. Im Jahr 2018 erhielten Apotheken 2.699 Kilo Cannabis, 2019 waren es 4.321 Kilo. Auch in den letzten zwei Jahren gab es einen erneuten Sprung – von 6.292 Kilo im Jahr 2020 auf 9.007 Kilo im Jahr 2021."

Schon im November 2021 berichtete das RND über die politischen Pläne zum Handel mit Cannabis. In den Formulierungen des neuen Koalitionsvertrages habe die Ampelregierung demnach angekündigt, den Verkauf von Cannabis – neben dem Einsatz als Medikament und als Nutzpflanze, etwa für Textil-Stoffe – auch "zu Genusszwecken" zu erlauben. Im März 2017 war das bisher geltende Gesetz "Cannabis als Medizin" seitens der Bundesregierung in Kraft getreten. Die Gesetzes-Definition lautet offiziell:

"Das Gesetz regelt den Einsatz von Cannabisarzneimitteln als Therapiealternative bei Patientinnen und Patienten im Einzelfall bei schwerwiegenden Erkrankungen. Bedingung dafür ist, dass nach Einschätzung des behandelnden Arztes diese Mittel spürbar positiv den Krankheitsverlauf beeinflussen oder dessen Symptome lindern."

Die Techniker Krankenkasse (TK),  als größte deutsche Krankenversicherung mit 10.843.365 Mitgliedern, informierte 2019 auf ihrer Seite über potenzielle Diagnosegründe, die eine Verschreibung von medizinischem Cannabis rechtfertigen. Dort heißt es:

"Nach der neuen Gesetzeslage können Ärzte Cannabis in pharmazeutischer Qualität schwerkranken Menschen in Ausnahmefällen verordnen."

Folgende Krankheiten und Anwendungsbereiche stellen eine denkbare Indikation für eine Therapie mit medizinischem Cannabis dar:

Theoretische Möglichkeiten, nach professioneller medizinischer Abwägung, fänden sich bei Angststörungen, Schlafstörungen und dem Tourette-Syndrom. Bei der Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) lägen indes weiterhin kaum wissenschaftliche Belege für einen positiven Effekt vor. Keinerlei Wirksamkeit von Cannabis bestehe demgegenüber bei den Indikationen, also Erwägungen:

Zukünftig soll in Deutschland auch ein staatlich kontrollierter Anbau von Cannabis für medizinische Zwecke möglich werden. Verantwortlich für die Umsetzung ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als staatliche "Cannabisagentur", so die Formulierung auf der Seite der Bundesregierung. Bis dato erfolgt die Versorgung und Abdeckung mit Medizinal-Cannabis fast ausschließlich über Importe. 2018 startete das EU-weite Ausschreibungsverfahren zum Anbau von Medizinalhanf und den damit verbundenen Vergabekriterien. Leafly, das "Wissensportal über Cannabis als Medizin", informierte im selben Jahr über zu hohe Hürden und "unüberwindbare Hindernisse" für potenzielle Anbauer in Deutschland. 

Leafly erläuterte, dass die Teilnehmer an der Cannabis-Ausschreibung im Jahre 2018 zu "Anbau, Weiterverarbeitung, Lagerung und Verpackung für pharmazeutisches Cannabis" bestimmte Kriterien erfüllen mussten. Denn nur so konnten sie eine möglichst hohe Punktzahl erreichen. Demnach war ein wichtiges Kriterium, dass die Teilnehmer "Referenzen über den Anbau von Cannabis für medizinische Zwecke von mindestens 50 Kilogramm in den vergangenen drei Jahren vorweisen mussten." Ohne diese Referenzen hätten potenzielle Bewerber nur 20 von 60 Punkten erreicht bzw. mussten deutsche Unternehmen "anbauerfahrene, ausländische Interessenten hinzuziehen". Insgesamt hatten sich an der ersten Ausschreibung, die aufgrund eines Urteils im Jahre 2019 wiederholt werden musste, 118 Bieter bzw. Bietergemeinschaften in Deutschland beteiligt. Die Ausschreibung umfasste dabei ein Gesamtvolumen von 10.400 kg Cannabis, verteilt auf vier Jahre mit jeweils 2.600 kg. Diese Angaben finden sich in einer Darlegung auf der Seite der Bundesregierung. Bei erfolgreichem "Ablauf" ging das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vor zwei Jahren davon aus, dass "Cannabis voraussichtlich ab 2020 aus dem Anbau in Deutschland zur Verfügung stehen wird." Mit Stand Oktober 2021 gibt jedoch nur drei Unternehmen, die in Deutschland tatsächlich Cannabis anbauen dürfen.

Das Handelsblatt informierte 2021 darüber, dass laut Statistik der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) die Zahl der Cannabis-Verordnungen 2019 um 44 Prozent gestiegen sei, und 2020 der Zuwachs bei rund 20 Prozent liegen dürfte. Marktschätzungen gingen davon aus, dass 2021 mehr als 80.000 Menschen in Deutschland Cannabis für therapeutische Zwecke verordnet bekamen. Tobias Haber, Cannabisexperte bei dem Marktforschungsinstitut Insight Health meinte in dem Artikel diesbezüglich:

"Der Markt für medizinisches Cannabis in Deutschland hat sich nicht so stürmisch entwickelt, wie es manche Anbieter anfangs erwartet hatten. Auch deshalb, weil die bürokratischen Hürden in Deutschland hoch sind, denn die Erstattung ist eine Einzelfallentscheidung."

Die finale Entscheidung über die Übernahme der Kosten liegt bei den Versicherungen. Der Deutschlandfunk berichtete in einem Beitrag indes über das vielleicht wesentlichere Problem: den weiterhin kaum existierenden Anbau. Demnach wird das meiste medizinische Cannabis weiterhin nach Deutschland importiert, vor allem aus Kanada und den Niederlanden. Laut Branchenverband hat sich der Import im Vergleich zum vergangenen Jahr fast verdoppelt. Der Geschäftsführer einer der drei zugelassenen Anbaufirmen kritisiert daher:

"Der Markt kann nicht bedient werden durch die Menge, die im Moment in Deutschland hergestellt werden kann. Es ist viel mehr an Bedarf da, als was die Bundesregierung bisher ausgeschrieben hatte."

Ein weiterer Grund finde sich auch in den zögerlichen Verschreibungen. Viele Ärzte hätten noch Berührungsängste und würden sich dem Thema nur zögerlich nähern. "Denn Cannabis ist vielerorts noch als Freizeitdroge stigmatisiert, und die Therapieentscheidungen erfordern sehr viel Spezialwissen", so die Einschätzung von Tobias Haber gegenüber dem Handelsblatt. Die einst anvisierte Marke von 800.000 und mehr Patienten in Deutschland, die mit Cannabis therapiert werden, würde noch einige Zeit benötigen. Wobei Haber "ein hohes Wachstumspotenzial für Medizinalcannabis" in Deutschland sieht:

"Denn es gibt Millionen Patienten, für die eine Therapie infrage kommen könnte."

In der aktuellen Antwort der Bundesregierung heißt es laut RND, es sei derzeit nicht möglich einzuschätzen, wie sich eine kontrollierte Freigabe auf Produktion und Verbrauch von Cannabis in Deutschland auswirken werde.

Mehr zum Thema - Londoner Wissenschaftler entwickeln magnetische Samen gegen Krebs