von Anton Gentzen
Sie verhängen Strafen, schlichten Streit, entscheiden über kleine Geldforderungen oder sogar manchmal über Milliardenvermögen, und das Schicksal von Kindern in Sorgerechtsverfahren liegt in ihren Händen, selbst gegen staatliche Willkür können nur sie dem Bürger zum Recht verhelfen – für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft sind Richter von enormer Bedeutung, unverzichtbar.
Zugleich sind es Menschen mit eigenen Überzeugungen, Fehlern und Schwächen. Als Staatsbürger sind auch sie mit dem Recht auf eine eigene Meinung und auf politisches Engagement ausgestattet, auch mit dem passiven Wahlrecht. Doch was ist, wenn die Äußerungen und politischen Aktivitäten des Richters zu Zeiten einer Mehrheit der Gesellschaft zuwider sind, wenn sie Zweifel an der unbefangenen Verhandlungsführung des Richters, an seiner Neutralität wecken? Wie sind die individuellen Bürgerrechte des Richters vereinbar mit dem Anspruch der Gesellschaft und jedes anderen Bürgers, im Bedarfsfall auf einen Richter zu treffen, der sich bei seinen Entscheidungen nicht von persönlichen politischen Vorlieben oder Abneigungen leiten lässt?
Zur Lösung dieses Konflikts sind der Richterschaft, noch mehr als anderen Beamten, bestimmte Gebote auferlegt, die auch außerhalb der Dienstzeiten im Privaten befolgt werden müssen: das Neutralitätsgebot und das Gebot der Zurückhaltung bei der Ausübung der individuellen Meinungs- und Redefreiheit (Mäßigungsgebot). Der Deutsche Richterbund fasst diese Grundsätze in einer Stellungnahme zur Problematik des Tragens religiöser Symbole so zusammen:
"Die Neutralität und Unvoreingenommenheit der Richter ist eines der zentralen und grundlegenden Prinzipien eines rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesens. Jegliche Akzentuierung einzelner persönlicher Merkmale und Ansichten des Richters gefährdet den strikt neutralen Rahmen einer Gerichtsverhandlung. Die Rechtsprechung ist als selbstständige dritte Staatsgewalt in besonderer Weise der Neutralität verpflichtet. Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten eines rechtsstaatlichen gerichtlichen Verfahrens, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet."
Jens Maier wurde 1962 in Bremen geboren, studierte Jura in Tübingen, war in der Studentenzeit gar Mitglied der SPD. Gleich nach dem Zweiten Staatsexamen, das er 1991 ablegte, nutzte er wie viele westdeutsche Juristen die sich überraschend in der soeben einverleibten Ex-DDR auftuenden Karrierechancen. Das also, was man (nicht nur) in Sachsen "Westimport" nennt und womit nach 1990 nahezu alle höheren Stellen in Ministerien, Universitäten und Gerichten der fünf "neuen" Bundesländer besetzt wurden.
Seit 1991 lebt Maier nun ununterbrochen in Dresden, arbeitete sich über befristete Stellen in Ministerien und Hochschulen im Staatsdienst hoch und wurde 1997 Richter am örtlichen Landgericht. Was ihn in die Schlagzeilen brachte, waren seine politischen Ansichten, die er sich irgendwann zwischen seinem Austritt aus der SPD im Jahr 1986 und dem Eintritt in die AfD 2013 zugelegt haben muss.
In der AfD wird Maier zum "rechten Flügel" gezählt, also so weit rechts, dass die kurz danach aus der Partei ausgetretene sächsische Vorzeigefrau der "Alternativen" Frauke Petry 2017 gar seinen Parteiausschluss anstrebte. Dazu ein Zitat aus ihrem Ausschlussantrag:
"Der Antragsgegner lobt mehrfach und beharrlich die NPD und ist sich dabei der Tatsache bewusst, dass es sich um eine verfassungsfeindliche Partei handelt."
Ausgeschlossen wurde Maier nicht, stattdessen zog er 2017 über die sächsische Landesliste der AfD in den Deutschen Bundestag ein, und die direkt gewählte Petry trat vielmehr selbst aus der AfD aus. Ein Direktmandat im Wahlkreis Dresden I hatte der Wahlsachse hingegen knapp verfehlt.
Die Unterstützung für Maier in den Reihen der sächsischen AfD war gar so groß, dass man ihn – just in der Zeit, in der Petry das Ausschlussverfahren betrieb – auf dem Landesparteitag der AfD auf Platz zwei der Kandidatenliste für den Bundestag wählte. Bundesweit erregte er Aufsehen, als er bereits im Januar 2017 als Vorredner für Björn Höcke bei dessen ebenfalls stark umstrittenen Dresdner Rede ebenfalls das Ende des "deutschen Schuldkults" ausrief und sich gegen die "Herstellung von Mischvölkern, um die nationalen Identitäten auszulöschen" aussprach.
Wahlkampf machte der sprachgewandte Richter mit Parolen wie "Ich will, dass Deutschland wieder aufersteht", "Festung Europa – macht die Grenzen dicht", er hetzte gegen "linke Versager und Schmarotzer" und forderte eine Obergrenze für Zuwanderung von "Minus 200.000 pro Jahr".
Auch wenn vieles von dem, was Presse und politische Gegner Maier vorwerfen, auf Verzerrungen und Übertreibungen beruht, so reicht auch der verbleibende Tatsachenkern aus, um ihn klar dem rechten Flügel der AfD zuzuordnen.
Nach einer Meldung der Dresdener Neuesten Nachrichten im Oktober 2020 stufte der sächsische Verfassungsschutz Maier als Rechtsextremisten ein, wobei unklar blieb, wann genau diese Einstufung erfolgte. Über die Belege könne die Behörde zudem aus Datenschutzgründen keine Auskunft geben, heißt es in dem Bericht weiter. Zuvor sei Maier in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Sächsischen Landtagsabgeordneten Kerstin Köditz (Die Linke) als Rechtsextremist bezeichnet worden.
Dass Richter einen "Ausflug" in die große Politik unternehmen, ist keine Seltenheit. Üblich ist, dass sie für die Dauer des politischen Mandats von ihrem Richteramt freigestellt werden und nach Ende der Legislatur wieder an den alten Arbeitsplatz zurückkehren. Probleme gab es dabei nie, unabhängig von der Parteizugehörigkeit des Rückkehrwilligen.
Die Rückkehr in das Richteramt hat nun auch Maier beantragt, nachdem er seit Dezember letzten Jahres nicht mehr dem Bundestag angehört. Als dies bekannt wurde, wurde zugleich auch Kritik laut, zunächst in Sachsen, dann bundesweit.
Das sächsische Justizministerium vertritt derzeit die Auffassung, es könne die Wiederbeschäftigung von Maier nicht verhindern. Generell wären dienstrechtliche Fragen grundsätzlich Angelegenheit des unmittelbaren Dienstherren, also des Dresdener Landgerichts, dem der Rückkehrer aus der Politik formal weiter angehört. Pikant dabei ist: Die sächsische Justizministerin gehört der Partei Bündnis 90/Die Grünen an und erntet für die "Untätigkeit" des Ministeriums nun verbale Schläge aus den eigenen Reihen. Die den Grünen nahestehende taz hat in dem Fall eine besonders auffällige Aktivität entwickelt und widmete dem Fall mehrere Artikel.
Das Justizministerium stützt sich auf ein Gutachten, mit dem die Rechtslage und die Handlungsoptionen ausgelotet wurden. Es kommt zu dem Schluss, dass es laut Abgeordnetengesetz einen Rechtsanspruch auf Rückführung in das frühere Richterverhältnis gibt, mindestens auf einen gleichwertigen Posten. "Eine Ermessensentscheidung ist nicht vorgesehen", stellt die Behörde fest. Das Justizministerium sei "grundsätzlich nicht befugt, ein Disziplinarverfahren gegen eine Richterin oder einen Richter einzuleiten". Ein Disziplinarverfahren wiederum könne nach Auffassung der Ministerialbeamten nur nach Rückkehr in das Richteramt eingeleitet werden und sich ohnehin nicht auf Äußerungen in der Abgeordnetenzeit erstrecken.
Ausgerechnet Richtervereinigungen haben sich gegen eine Rückkehr Maiers in das Richteramt ausgesprochen und in Stellungnahmen rechtliche Möglichkeiten, diese zu verhindern, ins Gespräch gebracht.
Der deutsche Richterbund hat sich vor einigen Tagen für ein Eingreifen vom Justizministerium und Landtag aus. Joachim Lüblinghoff, Vorsitzender der Richtervereinigung, sagte zur taz:
"Es wäre ein unerträglicher Zustand, wenn ein offenkundiger Rechtsextremist in den Justizdienst zurückkehren und in Deutschland Recht sprechen würde. Das kann niemand wollen."
Dabei denkt der Richterbund wohl an eine sogenannte Richteranklage, die vom Landtag erhoben werden müsste. Das Verfahren ist in Artikel 80 der sächsischen Verfassung geregelt, ähnliche Regelungen gibt es auch im Grundgesetz und in den Verfassungen anderer Bundesländer. Absatz 1 von Artikel 80 lautet:
"Wenn ein Richter im Amt oder außerhalb des Amtes gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes oder des Freistaates verstößt, so kann auf Antrag des Landtages das Bundesverfassungsgericht anordnen, dass der Richter in ein anderes Amt oder in den Ruhestand zu versetzen ist. Im Fall eines vorsätzlichen Verstoßes kann auf Entlassung erkannt werden."
Ob Maier ein Verfassungsfeind oder für ein Richteramt tragbar ist, würde dann vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden.
Auch die Neue Richtervereinigung hat die Richteranklage ins Gespräch gebracht.
Erforderlich für die Richteranklage ist eine Zweidrittelmehrheit im Sächsischen Landtag, es müssten also 80 von 119 Landtagsabgeordneten für die Richteranklage stimmen. Dass die Zweidrittelmehrheit überhaupt zustande kommt, ist allerdings keineswegs so sicher, wie es scheint: Die AfD ist 2019 mit 36 Abgeordneten in das Landesparlament in Dresden eingezogen und muss nur noch vier weitere Abgeordnete auf ihre Seite ziehen, um die Richteranklage gegen Maier zu verhindern. In den Reihen der CDU, die 45 Abgeordnete stellt, könnten sich einige Mandatsträger finden, die gegen einen derartigen Antrag stimmen. Diese Blöße will sich die Regierungskoalition in Dresden offensichtlich nicht geben, was auch die Haltung der grünen Justizministerin erklären könnte.
Der politische Druck führte nun immerhin dazu, dass dem 60-jährigen Maier am Freitag zwei Schreiben übermittelt wurden. Zum einen wird Maier mitgeteilt, dass er nicht am Landgericht Dresden, sondern am Amtsgericht Dippoldiswalde (etwa 20 km südlich) weiterbeschäftigt wird. Damit erfülle man den Rückführungsanspruch, der dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten gesetzlich zusteht. Parallel dazu sei am Dienstgericht für Richter, das am Landgericht Leipzig ansässig ist, ein Antrag auf Versetzung Maiers in den Ruhestand nach Paragraf 31 des Richtergesetzes gestellt worden. Danach kann ein Richter vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden, "wenn Tatsachen außerhalb seiner richterlichen Tätigkeit eine Maßnahme dieser Art zwingend gebieten, um eine schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege abzuwenden". Laut Ministerium ist dieser Paragraf in der deutschen Rechtsprechung bislang erst zweimal zur Anwendung gelangt. "Die rechtlichen Hürden sind außergewöhnlich hoch. Wir bewegen uns hier in einem absoluten juristischen Neuland", sagte die Justizministerin.
Derzeit spricht viel dafür, dass Jens Maier in den Richterdienst zurückkehren und noch sieben Jahre lang unter dem sächsischen Wappen Urteile fällen wird. Der Rechtsstaat wird es vermutlich überleben.
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