Der ehemalige Leiter des Ressorts Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, Dr. jur. Heribert Prantl, gilt seit vielen Jahren als scharfsinniger und mitunter unbequemer Beobachter des politischen und gesellschaftlichen Geschehens. In der Corona-Krise tat sich der ehemalige Rechtsanwalt, Richter und Staatsanwalt zuletzt durch teils scharfe Kritik an der Maßnahmen-Politik der Bundesregierung hervor.
Seine Analyse des entsprechenden politischen und juristischen Zeitgeists fasste er zuletzt in seinem Buch "Not und Gebot: Grundrechte in Quarantäne" zusammen, in dem er dem interessierten Leser einige "Denkanstöße aus Coronien" mit auf den Weg gibt. Insbesondere geht Prantl in seiner Streitschrift der Frage nach, "wie mit Angst Politik gemacht wird". Der Autor, Journalist und Jurist stellt u. a. fest:
"Noch nie in der Geschichte ist das Leben der Menschen außerhalb von Gefängnissen so strikt reguliert worden wie in der Corona-Zeit."
Vor wenigen Tagen sorgten nun die lang erwarteten Hauptsacheentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den zahllosen Verfassungsbeschwerden aufgrund der Maßnahmenpolitik der Bundesregierung für Aufsehen. Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, aber auch Schulschließungen im Zuge der sogenannten "Bundesnotbremse" im Frühjahr 2021 waren nach Ansicht des Gerichts mit dem Grundgesetz vereinbar. Zwar habe es sich bei den erlassenen Maßnahmen um eindeutige und tiefe Eingriffe in die Grundrechte der Bürger gehandelt, dennoch seien diese angesichts der festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite "verhältnismäßig" gewesen.
Für Spekulationen in Hinsicht auf eine womöglich "zu große Politiknähe", die auch Einfluss auf die nun erfolgte Entscheidung des BVerfG ausgeübt haben könnte, sorgte zuletzt das mutmaßliche Vertrauensverhältnis zwischen der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem BVerFG-Präsidenten und ehemaligen Unionsfraktionsvize Stephan Harbarth.
Im nun erfolgten Urteilsspruch heißt es u. a.: "Umfassende Ausgangsbeschränkungen kommen nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht. Hier war die Entscheidung des Gesetzgebers für die angegriffenen Maßnahmen in der konkreten Situation der Pandemie und nach den auch in diesem Verfahren durch die sachkundigen Dritten bestätigten Erkenntnissen zu den Wirkungen der Maßnahmen und zu den großen Gefahren für Leben und Gesundheit tragfähig begründet und mit dem Grundgesetz vereinbar."
Das ehemalige Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl vertritt eine dezidiert andere Meinung und äußerte diese in einem am Samstag erschienenen Interview mit der Berliner Zeitung. Die nun ergangenen Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts beurteilt Prantl als "dürftig in ihrer Begründung".
"Sie sind oberflächlich in der juristischen Argumentation. Sie sind gefährlich in der Reduzierung des Rechtsschutzes. Und sie sind feige in ihrer Grundhaltung."
Zunächst, so der Jurist, sei er angesichts der richterlichen Entscheidung "nur enttäuscht" gewesen. Nach wiederholter Lektüre des Karlsruher Urteils habe sich diese Enttäuschung jedoch gewandelt: "Dann habe ich gelesen und noch mal gelesen. Und ich war, in dieser Reihenfolge: ungläubig, empört und zornig." Ob des peinlichen Urteils habe er sich fremdgeschämt, fährt Prantl fort.
"Es ist ein peinliches Urteil. Wenn man das Bundesverfassungsgericht so schätzt, wie ich es tue, weil es sich große und größte Verdienste erworben hat – dann hat man ein Fremdscham-Gefühl. Ich habe mich gefragt, wo die intellektuelle Kraft dieses Gerichts geblieben ist."
Neben Prantl stieß die Grundsatzentscheidung mit womöglich weitreichenden politischen Folgen auch bei weiteren Experten auf scharfe Kritik. "Irritiert" zeigte sich am 30. November etwa auch der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler in einem Gastbeitrag für die Zeit. Karlsruhe erkenne die den Menschen auferlegten Kontaktbeschränkungen als "Beschneidung zwischenmenschlicher Kontakte", es werde von den Richtern zudem darauf verwiesen, dass die Maßnahmen das Potenzial besäßen, "erheblich zur Vereinzelung" beizutragen. "Die Schulschließungen waren (und sind wieder) ein tiefer Eingriff in dieses Grundrecht auf Bildung und gleichzeitig in das Familiengrundrecht, so lautet die Einschätzung des Gerichts."
Doch letztendlich beschränke das Bundesverfassungsgericht "seine Kontrollfunktion" und billige dem Gesetzgeber "einen weiten Entscheidungsspielraum zu, den es nur begrenzt überprüft". "Das Ergebnis dieser eingeschränkten Kontrolle: Das Gericht akzeptiert die – politisch sehr umstrittene – Einschätzung des Gesetzgebers, Schulschließungen seien notwendig, geeignet und verhältnismäßig gewesen."
"Die Grundrechte schützen die Freiheit, ohne die eine Demokratie nicht denkbar ist. Ist Freiheit einmal verloren gegangen, wird es schwierig, sie zurückzuerobern."
Ähnlich sieht es Prantl. Laut ihm liefen die Beschlüsse aus Karlsruhe "auf den falschen Satz hinaus, dass Not kein Gebot kennt". Es sei vollkommen unzureichend, wenn das "Gericht (...) von einem angeblich schlüssigen Gesamtkonzept der Corona-Bekämpfung fabuliert – und sich so die penible grundrechtliche Prüfung der einzelnen Bekämpfungsmaßnahmen erspart".
"Es schwindet die Sicherheit im Recht, an die ich glaube und glauben will. Man kann und darf das Gericht nicht dafür kritisieren, dass es sich auf die Corona-Gefahr konzentriert. Aber ich werfe dem Gericht vor, dass es sich einzig und allein auf diese Gefahr fokussiert."
Das Bundesverfassungsgericht habe andere Aufgaben als das Robert Koch-Institut, so Prantl. Es sei wie beim Tontaubenschießen. "Die Grund- und Bürgerrechte werden erst hochgeschossen, dann abgeschossen."
Das Grundgesetz werde "von Karlsruhe quasi unter Pandemievorbehalt gestellt". Die Ansicht, dass diese Art Vorbehalt mit dem Grundgesetz unvereinbar sei, brachte das ehemalige Mitglied der SZ-Chefredaktion, gemeinsam mit einer damit verbundenen Angst vor der Erosion der Grundrechte, bereits Anfang des Jahres zum Ausdruck. Prantl verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Gesellschaft aufwachen möge.
Im nun erfolgten Interview mit der Berliner Zeitung betonte Prantl, dass Corona zwar "eine furchtbare Gefahr" sei. Dies dürfe jedoch keinesfalls damit einhergehen, dass "die Wirksamkeit, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen" einen zweitrangigen Charakter erhielten. Aufgrund der Entscheidungen aus Karlsruhe unternimmt Prantl anschließend einen für viele Beobachter dystopisch anmutenden Ausflug in eine womöglich drohende Zukunft:
"Man wird sehen, wie mit Impfunwilligen umgegangen wird. Alle reden jetzt von einer Impfpflicht. Scholz will sie, Lindner stimmt auch zu. Sie wird wohl kommen. Kommt dann auch der Impfzwang? Und: Wird womöglich das Nichtimpfen kriminalisiert? Wird das Nichtimpfen zur Straftat? Ist dann künftig einer, der sich nicht impfen lässt, ein Straftäter?"
Die Beschlüsse aus Karlsruhe hätten der Politik endgültig das "anything goes"-Gefühl vermittelt.
Bereits zu Beginn der Corona-Krise warnte der Kolumnist davor, das Werben und vermeintliche Eintreten für die Grundrechte, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit etwa der AfD zu überlassen. Es handele sich um Heuchelei, wenn "die AfD und andere Radikale und Extremisten" sich als Hüter der Grundrechte gerierten. In diesem Zusammenhang sei es ein fatales Signal, Demonstranten gegen die Corona-Politik pauschal als "Wutbürger" und "Verschwörungstheoretiker" zu stigmatisieren.
"Wer in Corona-Zeiten für die Achtung und Beachtung der Grundrechte wirbt, ist kein Wutbürger, sondern ein Bürger. Wer eine Demonstration anmeldet oder bei einer Demonstration mitmacht, um dort die Achtung der Grundrechte anzumahnen, der ist kein Verschwörungstheoretiker, sondern ein Demokrat."
Das Motto "Maske auf, Klappe halten!" sei letztlich demokratiegefährdend. Oft jedoch, so Prantl Anfang 2020, habe er zu hören bekommen: "Ich weiß gar nicht, was Sie immer mit der Demokratie haben, Prantl. Übertreiben Sie es doch nicht. Die Demokratie ist doch nicht gefährdet. Die nächste Bundestagswahl ist erst im Herbst 2021. Bis dahin ist die Corona-Krise, selbst wenn sie lange dauert, Vergangenheit."
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