Mit Verweis auf die aktuelle Entwicklung der "pandemischen Situation" empfiehlt der Deutsche Ethikrat der Bundesregierung, eine Pflicht zur Impfung gegen COVID-19 – zumindest für bestimmte Berufsgruppen – "ernsthaft und rasch" zu prüfen, wie er in einer Pressemitteilung vom 11. November 2021 schreibt. Der Ethikrat greift damit in eine öffentliche Debatte ein, die seit Wochen Fahrt aufnimmt.
Der Ethikrat spricht sich ohne Gegenstimme und bei drei Enthaltungen für diese Empfehlung aus. Daneben soll es bei den bekannten Maßnahmen wie "einer effektiven Teststrategie", "deutlich besserer Datennutzung" und "verschiedenen Formen von Hygienekonzepten und Kontaktreduzierungen" bleiben. Der Ethikrat betont, dass einige europäische Länder bereits eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen eingeführt haben.
Bereits in einer Stellungnahme zur Masernimpfung im Jahr 2019 hatte sich der Deutsche Ethikrat mit der Frage einer berufsbezogenen Impfpflicht beschäftigt und diese für einige Berufsgruppen empfohlen.
Widersprüchliche Signale
Gemeinsam mit der Ständigen Impfkommission und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina veröffentlichte der Ethikrat im November 2020 ein Positionspapier, worin festgehalten wurde:
"Eine undifferenzierte, allgemeine Impfpflicht ist auszuschließen. Wenn überhaupt, ließe sich eine Impfpflicht nur durch schwerwiegende Gründe und für eine präzise definierte Personengruppe rechtfertigen. Dies beträfe insbesondere Mitarbeiter*innen, die als potenzielle Multiplikatoren in ständigem Kontakt mit Angehörigen einer Hochrisikogruppe sind."
Eine allgemeine Impfpflicht lehnt der Ethikrat zwar noch ab. Doch sendet das Gremium parallel eine andere Botschaft, die der strikten Ablehnung zu widersprechen scheint:
"Es steht zu hoffen, dass bereits die Diskussion um die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht als ein Signal in den Institutionen wahrgenommen wird, zügig effektive, aufsuchende Impfkampagnen mit zielgruppenspezifischer Information und Aufklärung für die verschiedenen Berufsgruppen zu organisieren, die mit den ohnehin angezeigten Booster-Impfkampagnen kombiniert werden könnten."
Wie lange noch freiwillig?
Abgesehen von der als "angezeigt" hingestellten "Booster-Impfung", betont der Deutsche Ethikrat, dass die Impfstrategie weiterhin "auf Freiwilligkeit, Information, Überzeugungsarbeit und Vertrauensbildung" setzen solle. "Die Anstrengungen, möglichst alle Menschen von der Notwendigkeit der Impfung zu überzeugen", müssten "verstärkt" und die Impfstrategie durch "eine weiter ausgebaute Teststrategie" ergänzt werden.
Mit der Forderung nach einer Impfpflicht für bestimmte Gruppen steht der Ethikrat nicht allein. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina verlangt ihrerseits "Impfpflichten für Multiplikatoren". Damit greift die Leopoldina die genannten Forderungen aus dem erwähnten gemeinsamen Papier auf, das vor einem Jahr gemeinsam mit dem Ethikrat erstellt wurde.
Offenlegung des Impfstatus am Arbeitsplatz?
Doch nicht nur dies: In seinem Vorwort zu einer aktuellen Studie fordert der Akademie-Präsident und Berater der Bundesregierung Gerald Haug schärfere Maßnahmen, die nicht nur datenschutz- und arbeitsrechtlich höchst umstritten sind. Haug tritt für "eine angemessenere Regelung zur Offenlegung des Impfstatus in der Arbeitsschutzverordnung" und "eine größere Geltungsreichweite der 2G-Regel" ein – Maßnahmen, die vor allem die Arbeitswelt betreffen.
Nur so ließe sich die "Eindämmung der Pandemie" angeblich "verbessern" und die "gesellschaftliche und medizinische Herausforderung" bewältigen, die sich laut Haug "infolge eines Mangels an Prävention, klaren Regeln und Stringenz" ergeben habe.
Der Leopoldina-Präsident schlägt als weitere Maßnahme vor, selbst "in Innenräumen möglichst einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, vor allem wenn der Immunstatus (2G: vollständig geimpft oder genesen) unsicher ist und Abstände und Lüftung nicht gewährleistet werden können."
Forderungen der Ärztevertreter
Ganz ähnliche Forderungen für bestimmte Berufsgruppen hat auch der Marburger Bund kürzlich auf seiner Hauptversammlung erhoben. Der Verband der angestellten und verbeamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands plädiert für eine
"Pflicht zur Schutzimpfung gegen das Coronavirus für Personen, die in medizinischen Einrichtungen, Alten- und Pflegeheimen sowie Schulen und Kindertagesstätten tätig sind."
Ohne "berufsbezogene Impfpflicht", so die Ärztevertreter, könnten "viele besonders vulnerable Personengruppen erheblich gefährdet" sein. Es bestünde "akuter Handlungsbedarf", hieß es auf der Versammlung, wie an den "rasant steigenden Infektionszahlen insbesondere bei Kindern" und "zunehmenden Impfdurchbrüchen bei älteren und multimorbiden Personen – bei gleichzeitig weiterhin teils zu niedrigen Impfquoten der Beschäftigten in diesen Bereichen" zu erkennen sei.
Von einer berufsbezogenen Impfpflicht wären Beschäftigte in Arztpraxen, Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen, Pflegediensten sowie zahlreichen weiteren Einrichtungen des Gesundheitswesens, aber auch in Kindertagesstätten, Schulen, Ausbildungseinrichtungen, Heimen, Alten- und Pflegeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften betroffen.
Impfpflicht für alle?
Auch die Sächsische Landesärztekammer verlangt schärfere Maßnahmen über die bestehenden hinaus. Auf ihrer Tagung am gestrigen Mittwochabend beschloss sie, eine "allgemeine Impfpflicht" für "alle Menschen ab 16 Jahren" zu fordern. Pauschal betrachteten die sächsischen Ärzte die neuen Impfstoffe als "ein valides Mittel, die Pandemie zu beherrschen".
Auf der Versammlung stellte der sächsische Ärzte-Präsident, Erik Bodendieck, den "Worst Case in der Corona-Pandemie für Sachsen" fest. "Die Inzidenzen, die geringe Impfquote und die Belegung der Krankenhausbetten" seien "eindeutige Fakten", wie die Sächsische Landesärztekammer auf ihrer Webseite mitteilte.
Die sehr allgemein gehaltenen Aussagen der Sächsischen Landesärztekammer stehen im Gegensatz zu den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut vom selben Tag. Denn die STIKO spricht sich nun dafür aus, Personen unter 30 Jahren nur noch mit dem Präparat von BioNTech zu behandeln. Nach Verabreichung des Konkurrenzprodukts Spikevax von Moderna seien Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen häufiger beobachtet worden als nach der Impfung mit Comirnaty von Pfizer/BioNTech.
Vorsichtiges Taiwan
Ebenfalls am 10. November hat Taiwan die weiterreichende Entscheidung getroffen, den Impfstoff von BioNTech vorerst nicht mehr für Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren zu verwenden: Zweitimpfungen mit Comirnaty würden bis auf weiteres gestoppt.
Der Leiter von Taiwans Gesundheitsbehörde Central Epidemic Command Center (CECC) begründete die Aussetzung mit bestehenden Bedenken eines Expertengremiums, dass der COVID-Impfstoff von Pfizer-BioNTech das Risiko einer Herzmuskelentzündung erhöhen könnte. Auch die Zulassung von COVID-19-Impfstoffen für Kinder im Alter von 5 bis 11 Jahren werde auf Eis gelegt, solange die Frage der zweiten Dosis für die 12- bis 17-Jährigen nicht geklärt sei.
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