von Bernd Müller
Sie kommen Jahr für Jahr für einige Wochen nach Deutschland, um Gurken und Erdbeeren zu pflücken, Spargel zu stechen oder Hopfen zu ernten – die Rede ist von Saisonarbeitern aus Osteuropa. Ohne sie wäre der moderne Gartenbau in der Bundesrepublik kaum möglich. Und doch sind die Bedingungen, unter denen sie arbeiten und leben müssen, oft bedenklich. Die Initiative "Faire Landwirtschaft" hat kürzlich ihren neuen Bericht vorgestellt.
Eklatante Verstöße gegen geltende Regeln und Normen gehören nach wie vor zur Tagesordnung. Mal wird kein Lohn gezahlt oder die Arbeiter müssen darum kämpfen, ihn ausgezahlt zu bekommen; mal werden sie in üblen Unterkünften eingepfercht; und oft fehlt ihnen die Krankenversicherung. Der Bericht zählt zahlreiche Fallbeispiele auf.
Eines dieser Beispiele stammt von rumänischen Arbeitern. Sie waren in einer Baumschule in Nordrhein-Westfalen beschäftigt. Im Februar wandten sie sich an eine Beratungsstelle in Düsseldorf. Ihre Pässe hatten sie zu Beginn ihrer Arbeit als Kaution abgeben müssen. Sie mussten Dokumente unterschreiben, von denen sie nicht wussten, was sie da eigentlich unterschreiben. "Man sagte uns, das sei der Arbeitsvertrag, ein eigenes Exemplar bekamen wir aber nicht", gaben sie zu Protokoll. Sie mussten viele Überstunden leisten, die sie aber nicht extra vergütet bekamen. Die Vorgesetzten behandelten sie keineswegs freundlich, sondern schrien sie immer wieder an oder attackierten sie körperlich. Als sie es wagten, sich darüber zu beschweren, warf man sie kurzerhand raus. "Ohne Vorankündigung verloren sie am frühen Morgen ihre Arbeit und ihre Unterkunft und waren bei Minusgraden der Witterung ausgesetzt – ohne Pässe und ohne Geld", heißt es in dem Bericht.
Im Jahr 2020 kamen ungefähr 271.000 Arbeitskräfte nach Deutschland, um als Erntehelfer auf den Feldern zu arbeiten. Die Initiative "Faire Landwirtschaft" geht davon aus, dass dies auch der Größenordnung in diesem Jahr entsprach. Stellten noch vor Jahren die Polen die größte Gruppe unter den Saisonarbeitern, so sind es heute die Rumänen. Doch auch ihre Zahl nimmt zunehmend ab. Ein Grund dafür dürften die Berichte über die Arbeitsbedingungen in Deutschland sein, die im letzten Jahr durch die rumänischen Medien gingen. "Wir sind für Rumänen keine attraktiven Arbeitgeber mehr", meinte Jürgen Jakobs, Verbandsvorsitzender der ostdeutschen Spargelbauer, in der Tagesschau.
Arbeiter aus Ländern außerhalb der Europäischen Union sollen die größer werdende Lücke füllen. Bei Aktionen auf den Feldern kamen die Berater der Initiative "Faire Landwirtschaft" mit Erntehelfern aus der Ukraine und aus Georgien in Kontakt. Besonders in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sollen Ukrainer im Einsatz gewesen sein. Offiziell gehen sie einem Ferienjob nach oder einem Praktikum, das im Rahmen eines Studiums absolviert werden muss. Doch einer unveröffentlichten Studie des PECO-Instituts zufolge haben die angemeldeten Fachpraktika für Studenten überhaupt keinen Bezug zu Studieninhalten in der Ukraine, weder organisatorisch noch inhaltlich.
Von den 5.000 Georgiern, die man anwerben wollte, kamen nach Informationen der Bundesagentur für Arbeit nicht einmal 200 nach Deutschland – und was sie erlebt haben, dürfte nicht immer einen guten Eindruck hinterlassen haben. Mitarbeiter der Beratungsstelle "mira – Mit Recht bei der Arbeit" berichteten von unzumutbaren Verhältnissen, denen eine Gruppe von 24 Georgiern auf einem Obsthof in der Nähe von Ravensburg ausgesetzt war.
"Container mit verschimmelten Wänden und Decken, als Toiletten dienten zum Teil Dixi-Kabinen im Freien, Fenster ließen sich nicht öffnen oder waren zugemauert", heißt es in dem Bericht. In einer Toilette wäre der Bretterboden durchgebrochen gewesen, in einigen Containern habe es keine Spinde für persönliche Sachen gegeben. Wenn Frauen zur Toilette mussten, hätten sie den Männer-Container durchqueren müssen. Und überall wären Kakerlaken und anderes Ungeziefer gewesen. "Arbeitskleidung, die ihnen in Georgien zugesichert worden war, bekamen die Beschäftigten nicht, so dass sie mit Sandalen oder Halbschuhen im Matsch und in der Kälte Erdbeeren pflücken mussten." Verpflegung habe es nur am Abend gegeben – und das, obwohl sie zeitweise um fünf Uhr morgens mit der Arbeit beginnen mussten.
Wie oft Saisonarbeiter solche Zustände ertragen müssen, kann nicht genau beziffert werden. Das liegt unter anderem daran, dass die Mitarbeiter der Initiative "Faire Landwirtschaft" nur selten Zugang zu den Arbeitern bekamen. Wenn sie die Erntehelfer auf den Feldern aufsuchen und über ihre Rechte aufklären wollten, hätten die Betriebsleitungen mitunter massiven Widerstand geleistet. "Unsere Teams wurden massiv und teilweise rassistisch beleidigt. Andere Berater wurden bedroht, gestoßen oder mit dem Auto verfolgt", heißt es in dem Bericht.
Ein anderer Grund dafür war, dass staatliche Stellen kaum kontrollierten. Im April, dem Erntemonat für Spargel, habe der Zoll in Bayern in den letzten Jahren nur zwei bis vier Kontrollen durchgeführt. Und in ganz Niedersachsen belief sich demnach die Gesamtzahl der Zollkontrollen auf 105. Bundesweit gelte, so heißt es in dem Bericht, dass in der Landwirtschaft weit weniger kontrolliert wird als in anderen Branchen, die von Arbeitsmigration geprägt sind.
So verwundert es nicht, dass die Landwirte weitgehend folgenlos den Preisdruck auf die Arbeiter abwälzen können. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2016 errechnete, dass der Anteil der Lohnkosten an den gesamten Produktionskosten von Äpfeln bis zu 42 Prozent ausmachen würde. Bei Erdbeeren konnte er bis zu 66 Prozent ausmachen, beim Anbau von Spargel bis zu 48 Prozent. Der Druck für die Prozenten, die Lohnkosten niedrig zu halten, ist entsprechend hoch.
Dabei werden sie erfinderisch: In der Landwirtschaft ist es durchaus üblich, Akkordlöhne zu zahlen; doch die machen es am Ende besonders schwierig, den genauen Lohn und die Abzüge nachzuvollziehen. Saisonarbeiter seien in einer schwachen Position, heißt es in dem Bericht, denn sie erhalten ihren Lohn oft erst am Tag der Abreise. Fällt er ihren Berechnungen zufolge zu niedrig aus, dann ist es schwierig für sie, den ausstehenden Lohn einzufordern.
In dem Fall der zehn Rumänen, die kurzfristig auf die Straße geworfen wurden, half nur der Einsatz der Polizei, damit sie überhaupt ihre Pässe zurückbekamen und die ausstehenden Löhne erhielten; die hatten sich schon auf mehrere Tausend Euro summiert. Bei dem Landwirt löste das aber noch kein Umdenken im Umgang mit den Erntehelfern aus. Bei einem Feldbesuch im Sommer beklagte eine weitere Gruppe von Rumänen Zustände, die sich mit den Aussagen der Beschäftigten im Februar deckten.
Eine andere Methode, die Lohnkosten zu drücken, ist, den Erntehelfern horrende Kosten für Unterkunft und Verpflegung in Rechnung zu stellen und vom Lohn abzuziehen. Ein Betrieb in Bayern hatte von den Beschäftigten für ein Doppelzimmer 265 Euro im Monat verlangt, was fast das Doppelte des Zulässigen ist. Ein Betrieb in Brandenburg stellte seinen Erntehelfern 20 Euro pro Tag für Verpflegung und Unterkunft in Rechnung, was ebenfalls deutlich über dem Zulässigen ist. Vom Lohn abgezogen werden darf nur im Rahmen gesetzlich definierter Sachbezugswerte für Unterkunft und Verpflegung. Im Jahr 2021 lagen sie bei 8,77 Euro am Tag für Verpflegung und 4,74 Euro für ein Doppelzimmer.
In einem Punkt hat sich die Lage der Erntehelfer zumindest formal verbessert: Ab kommendem Jahr müssen die Landwirte für die Saisonarbeiter eine Krankenversicherung nachweisen. Doch Katharina Varelmann von der Initiative "Faire Landarbeit" befürchtet, dass auch hier wieder gespart wird. Sie rechne damit, dass viele Arbeitgeber private Gruppenversicherungen mit unklarem Leistungsumfang abschließen werden. Die Arbeiter hätten aber so immer noch keinen direkten und vom Chef unabhängigen Zugang zu den Leistungen.
So steht zu befürchten, dass auch im nächsten Jahr alles beim Alten bleiben wird. Denn wo der Staat wegschaut, gibt es auch keinen Anlass, die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
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