Tilo Gräser
Tobias Morgenstern ist ein virtuoser Musiker und ein rühriger Theater-Intendant. Der vielseitige Künstler ist schon in der DDR mit seiner Band „L’art de passage“ bekannt geworden, die auch den Liedermacher Gerhard Schöne begleitete. Seit 1998 leitet er als Intendant das „Theater am Rand“ im brandenburgischen Zollbrücke, einem 19-Einwohner-Ort im Kreis Märkisch-Oderland.
Für die Arbeit, die er dort leistet, sollte er eigentlich am Freitag das Bundesverdienstkreuz bekommen, gemeinsam mit dem Schauspieler Thomas Rühmann. Der teilt sich die künstlerische Leitung des Theaters mit Morgenstern. Für den fiel die Ehrung aus: Wegen vermeintlicher Kontakte des Künstlers in die "Querdenker-Szene" habe Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Verleihung abgesagt, berichtete unter anderem der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).
Eine Sprecherin des Bundespräsidialamtes habe gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa) erklärt, es seien "konkrete Hinweise" bekannt geworden, dass Morgenstern der "Querdenker-Szene" angehöre. In seiner Rede bezog sich Steinmeier laut rbb zwar nicht explizit auf den ausgeladenen Morgenstern, kritisierte aber die "Querdenker-Szene" als "Kult des Irrationalen".
Gute und schlechte Kultur?
Der Bundespräsident hat am Freitag Bundesverdienstkreuze an Menschen verliehen, "die sich während der Corona-Pandemie in besonderer Weise um Kunst und Kultur verdient gemacht hatten", wie es beim rbb heißt. Steinmeier sagte: "Die Pandemie hat uns bewusst gemacht, welche Bedeutung, welchen Wert Kunst und Kultur für uns haben – für das Leben jedes und jeder Einzelnen, aber auch für unsere Gesellschaft und unsere Demokratie."
Die Corona-Krise habe alle, die für die Kultur arbeiten, "besonders hart getroffen".
"Diese Ordensveranstaltung soll deshalb auch ein Zeichen sein: Wir dürfen nicht zulassen, dass einzelne Zweige unserer Kultur nach der Corona-Krise verdorren oder absterben."
Doch das gilt anscheinend nicht für alle, vor allem nicht jene, die sich eine kritische Sicht erlauben.
Morgenstern sagte der dpa selbst, das Büro des Bundespräsidialamtes habe die Absage mit seinen kritischen Äußerungen vor anderthalb Jahren begründet, unter anderem auf seiner Facebook-Seite. Die Absage des Preises nehme er gelassen. Zugleich sagte der Musiker und Intendant laut der Agentur: "Wir als Gesellschaft haben wahrscheinlich ein Problem im Moment, unterschiedliche, vor allem kritische Auffassungen zum Zeitgeschehen gelten zu lassen."
Kritik und Verwunderung
Kritik an der Entscheidung kam dem rbb zufolge vom zuständigen Landrat Gernot Schmidt (SPD). Er finde "es schlimm, wenn wir solche Positionen nicht demokratisch ertragen können. Ich bin der Meinung, wir müssen miteinander respektvoll umgehen, und ich bin auch der Meinung, dass Demokratie Meinungsvielfalt ertragen muss."
Die Geschäftsführerin vom "Theater am Rand" Almut Undisz sagte dem Sender: "Wir nehmen das schon als Schlag gegen das ganze Theater wahr." Morgenstern sei "schon immer aufgefallen durch ein sehr kritisches Denken, aber das hat uns auch Dinge beschert, die ich persönlich sehr zu schätzen weiß."
Nun hat sich auch Schauspieler Rühmann mit einem Brief an Steinmeier gewandt, wie die Märkische Oderzeitung (MOZ) am Dienstag berichtet. Der unter anderem aus der ARD-Serie "In aller Freundschaft" bekannte Darsteller fehlte am Freitag ebenfalls, bekommt den Orden aber noch nachgereicht. Er dankt Steinmeier für die Auszeichnung als "Belohnung für so viele Jahre Kreativität, Durchhaltevermögen und enorme Selbstausbeutung".
Rühmann ist nach eigener Aussage im Gegensatz zu Morgenstern Befürworter der Corona-Politik. Daraus habe sich in den letzten anderthalb Jahren "eine schwierige Konstellation" am Theater ergeben, "die uns bis an die Grenzen unserer Existenz geführt hat". Laut MOZ bestand die Gefahr, dass die beiden Theatermacher sich entzweien und das Theater vor dem Aus steht.
Konflikte und Schock
"Das Ganze ist ein Konflikt, der ja nicht nur bei uns gärt, sondern in vielen Familien, Betrieben, Institutionen", zitiert die Zeitung aus dem Brief des Schauspielers. "Die Gräben sind tief, und unser Land ist zunehmend in antagonistische Lager zerteilt." Das mache Verständigung "fast unmöglich".
Doch die beiden Künstler haben sich laut Rühmann "nicht gegenseitig verjagt":
"Wir erkennen unsere Verschiedenheit an, das Gegensätzliche, halten die Meinung des anderen aus, so schwer das manchmal ist. Das war auch immer die Triebfeder für das Theater. Ich finde, das macht Freiheit aus. Das ist Demokratie."
Der Schauspieler bezeichnet im Brief an den Bundespräsidenten die Absage an Morgenstern als "Schock", der "alle unsere Bemühungen um einen Frieden im Haus in Frage stellt". Die Nichtauszeichnung steht für Rühmann "in keiner Relation zum grundsätzlichen Erfolg".
Bitterkeit und Bitte
Er bezeichnet Morgenstern als "freien, ungewöhnlich kreativen, anspornenden, Visionen entwerfenden Menschen", der "keine Gewalt will". Das bezieht sich auf den unbelegten Vorwurf, die Kritiker der Corona-Politik, die mit dem pauschalen Etikett "Querdenker" versehen werden, seien gewaltbereit. Dem widerspricht Rühmann nicht grundsätzlich. Er warnt, die Orden-Verweigerung "spiele den Kräften in die Hände, die genau diese autoritäre Reaktion des Staates wollen".
Über den Theater-Intendanten sagt er: "Er will die Freiheit der Meinungen. So wie es im Grundgesetz steht." Ihm das Bundesverdienstkreuz zu verweigern, erreiche "das Gegenteil von dem, was Sie wollen", schreibt Rühmann an Steinmeier. "Auch mit meiner Ausladung aus der Veranstaltung am 1. Oktober. Das ist bitter für mich."
Der Schauspieler bittet den Bundespräsidenten, es sich noch einmal zu überlegen und "genauer hinzuschauen". Eine Pauschalverurteilung sei "ungerecht und nicht hilfreich". Rühmann betont: "Ich finde, es geht um Versöhnung und nicht um weitere Spaltung."
Aufruf und Hinweise
Stattdessen legt die MOZ am Dienstag online noch gegen Morgenstern nach – mit einem Beitrag unter der Überschrift "Viele Gründe – warum der Bundespräsident keinen Orden für Tobias Morgenstern hat". Darin wird behauptet, dass Morgenstern in seiner "umfangreichen Abrechnung mit der Corona-Politik vom Mai 2020" erkläre, "sich den Querdenkern anzuschließen".
Der Text ist immer noch auf der Webseite des Musikers online zu lesen. Darunter die Passage: "Zu meiner politischen Einordnung: Freiheit ist das höchste Gut, ich schließe mich den neuen Querdenkern sowie den kritischen Ärzten, Wissenschaftlern, PolitikerInnen des Landes an." Neben Hinweisen auf die Stiftung Corona-Ausschuss schrieb Morgenstern am 18. Mai 2020: "Ich rufe alle Menschen auf, sich dringend umfassend zu informieren. Die offizielle Informationspolitik unserer Regierung ist einseitig und diffamiert Andersdenkende."
Und:
"Bilden Sie sich kritisch Ihre eigene Meinung. Oder schließen Sie sich Bewegungen oder Organisationen an, die sich kritisch und demokratisch mit den Zuständen in unserem Land befassen."
Dann nennt er namentlich "eine kleine Auswahl von Personen, die zur Aufklärung beitragen können", darunter der Lungenarzt Wolfgang Wodarg, der Arzt Bodo Schiffmann, der Epidemiologe John Ioannidis, der Infektiologe Sucharit Bhakdi, ebenso der Virologe Hendrik Streeck und dessen Fachkollegin Karin Mölling.
Behauptungen und Vorwürfe
Die MOZ zitiert dazu Esther Uleer, die Stellvertretende Sprecherin des Bundespräsidenten: "Wer jedoch öffentlich seine Zugehörigkeit zu einer Bewegung erklärt, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird und unter anderem Äußerungen von Antisemiten beziehungsweise antisemitisches Gedankengut verbreitet, kann nicht mit dem höchsten deutschen Orden ausgezeichnet werden."
Das Blatt verweist darauf, dass sich der Musiker auch auf der Plattform Facebook kritisch geäußert hätte. Politik und Medien bezeichnen längst alle Gruppen und Personen, die sich kritisch zur Corona-Politik äußern, pauschal als "Querdenker". Ihnen werden ebenso pauschal verschiedene Verfehlungen unterstellt, ohne Beweise.
Während "Querdenken" inzwischen als bedrohlich gilt, war es zuvor ein Synonym für kreatives Denken außerhalb vorgegebener Bahnen, das sogenannte laterale Denken. "Die Wahrscheinlichkeit für kreative Einfälle kann erhöht werden, indem gewohnte Denkpfade verlassen und mentale Schranken überwunden werden", wird online dazu erläutert. Wenn Schauspieler Rühmann seinen Kollegen Morgenstern als "ungewöhnlich kreativen" Menschen lobt, klingt das passend. Doch auch er bezeichnet die "Querdenker" ohne Belege als "gewaltbereite Vereinigung".
Dabei wird unter anderem fortwährend ein internes Papier des Bundeskriminalamtes (BKA) vom November 2020 ignoriert, laut dem weniger die demonstrierenden "Querdenker" gefährlich seien. "Gewalttätig und gefährlich sind auf den Anti-Maßnahmen-Protesten allerdings, so der Kern der BKA-Analyse, vor allem die linken Gegendemonstranten", berichtete die Zeitung Nordkurier im Januar über dieses Papier.
Die MOZ meldet, Bundespräsident Steinmeier wolle sich im November zu einem Gespräch mit Rühmann und Morgenstern treffen. Und nochmals wird zugleich mit der Frage nachgelegt: "Warum waren Morgensterns Facebook-Aktivitäten nicht früher im Blick?"
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