In einem Interview mit der Welt geht der ehemalige oberste Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier hart mit der bundesdeutschen Corona-Politik ins Gericht.
Der Entzug der Grundrechte in der Corona-Krise war laut Papier "intensiv und vielfältig", und "ihre rechtsstaatliche Aufarbeitung ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen." Hier sieht der Berliner besonders die Gerichte in der Pflicht. Diese hätten zumeist im Eilverfahren Urteile durchgepeitscht, die aber keine endgültige Legitimation hätten.
Die "Erosion unserer Freiheitsrechte" habe seiner Meinung nach bereits vor Corona eingesetzt. Konkrete Beispiele dafür gab Papier aber nicht. Vielmehr wagte er einen Blick in die Zukunft, der wenig Gutes verheißt:
"Man kann leider nicht ausschließen, dass wir auch künftig mit Notlagen ähnlicher oder anderer Art fertig werden müssen."
Konkret nannte er die "voranschreitende Digitalisierung und Globalisierung".
Er stellte aber zugleich auch Forderungen an zukünftige Bundesregierungen:
"Epidemien oder andere Katastrophen werden immer schwerwiegende Grundrechtseingriffe des Staates erfordern. Aber es muss wieder klarer werden, dass der gute Zweck in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht jedes Mittel heiligt. 'Not kennt kein Gebot', dieser Satz darf nicht Raum greifen. Auch das allgemeine legitime Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, rechtfertigt nicht jeden Grundrechtseingriff. Schwerwiegende Freiheitsbeschränkungen aus bloßer Vorsorge sollte es künftig nicht mehr geben. Wir müssen uns rechtsstaatlich wappnen – das waren wir diesmal lange Zeit nicht."
Gefragt nach einem "vorläufigen Zeugnis" über die exekutiven Maßnahmen in der Corona-Krise, fällt Papiers Urteil verheerend aus:
"Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und die Rationalität seiner Entscheidungen ist im Laufe der Zeit erschüttert worden. Es wurde nicht generell, aber doch teilweise ziemlich irrational, widersprüchlich, kopflos und im Übermaß reagiert. Manche Entscheidungen waren fast absurd oder schlicht nicht durchsetzbar."
Über das "Verhalten der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts und der Bundesregierung" wollte er sich jedoch nicht äußern. Denn derartige "Treffen zwischen den Mitgliedern oder Repräsentanten der Verfassungsorgane fanden in unregelmäßigen Abständen immer schon statt. Auch zu meiner Zeit."
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