von Kaspar Sachse
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat beim staatlichen Festakt in Halle/Saale 31 Jahre nach der deutschen Vereinigung ihre wohl letzte große Rede gehalten. Eingangs blickte sie zurück:
"Der 3. Oktober 1990 steht für die Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit. Diese Freiheit brach nicht einfach über uns herein, diese Freiheit wurde errungen. Das Land, das wir heute als wiedervereinigtes feiern, konnte werden, weil es Menschen in der DDR gab, die für ihre Rechte, für ihre Freiheit, für eine andere Gesellschaft alles riskiert haben."
Dass die von Merkel erwähnten damals auf die Straßen gezogenen DDR-Bürger zum großen Teil eben nicht von den bundesrepublikanischen Kolonisten überrollt werden wollten, sondern eine lebenswertere DDR anstrebten, scheint Merkel vergessen zu haben. Wer freilich im Jahr 2021 für die Freiheit und seine Grundrechte auf die Straße geht, muss damit rechnen, von der Polizei auf das Schlimmste vermöbelt zu werden. So schlimm, dass der UN-Sonderberichterstatter über Folter Nils Melzer im "wiedervereinigten" Deutschland wegen mehr als hundert Hinweisen zu Polizeigewalt bei den Berliner "Corona-Demos" ermittelt. Dann geht Merkel auf die außenpolitischen Unterstützer der "Wiedervereinigung" ein:
"Unvergessen bleibt die Unterstützung unserer Partner im Westen – allen voran der Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreichs und Großbritanniens. Sie brachten einem wiedervereinigten Deutschland ein keineswegs selbstverständliches Vertrauen entgegen."
Fehlt da nicht noch etwas? Ach, das war ja "nur" das größte Land der Erde – die Sowjetunion. Ohne die Zustimmung von Präsident Gorbatschow hätte es definitiv keine "Einheit" gegeben – und vermutlich auch keine friedliche(!) Revolution. Verließen die russischen Truppen bis 1994 die ehemalige DDR, so stehen heute die US-Truppen mit über 30.000 Soldaten plus Wasserstoffbomben nach wie vor in diesem Land – und die NATO mittlerweile an der Grenze Russlands – doch auch das war der scheidenden Bundeskanzlerin keine Silbe wert. Dann wurde es privat:
"Für mich persönlich, die ich die Erfahrung der Mauer, der SED-Diktatur, der Angst vor dem Bespitzelungsapparat der Staatssicherheit, der Unfreiheit und Enge noch kenne, sind das Ende der Teilung und die Demokratie immer noch und immer wieder etwas Besonderes – und zwar weil ich weiß, dass sie errungen wurden und nicht zuletzt, weil man die Demokratie auch leben, ausfüllen, schützen muss. Sie braucht uns so, wie wir sie brauchen. Demokratie ist nicht einfach da, sondern wir müssen immer wieder für sie miteinander arbeiten, jeden Tag."
Die Aussage mag nicht so ganz zu der durch Merkel veranlassten Wiederholung der "Thüringen-Wahl" im Frühjahr letzten Jahres passen. Wie war das gleich noch: "Das Ergebnis muss rückgängig gemacht werden" – oder anders ausgedrückt: Zur regenbogenfarbenen, "marktkonformen Demokratie" passt eine mitbestimmende AfD einfach nicht. Doch zurück zum Hier und Heute:
"Wir erleben aber in dieser Zeit zusehends Angriffe auf so hohe Güter wie die Pressefreiheit. Wir erleben eine Öffentlichkeit, in der demagogisch mit Lügen und Desinformation Ressentiments und Hass geschürt werden, ohne Hemmung und ohne Scham. [...] allzu schnell münden verbale Attacken in Gewalt – so wie es die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der Anschlag auf die Synagoge hier in Halle, das Attentat von Hanau oder die Ermordung eines 20-jährigen Tankstellenmitarbeiters in Idar-Oberstein zeigten."
Da hat sie Recht – die Nerven liegen bei vielen Menschen blank. Auch beim Attentäter von Würzburg, der in Merkels Auflistung fehlt und der im Sommer drei Frauen ermordete und fünf weitere Personen schwer verletzte, war das der Fall. Er kam im Zuge der "Flüchtlingskrise" 2015 ins Land. Und doch:
"Vielfalt und Unterschiede sind keine Gefahr für die Demokratie; ganz im Gegenteil. Vielfalt und Unterschiede sind Ausdruck gelebter Freiheit. Erst recht gilt das für unser wiedervereinigtes Land mit all den bis 1990 durch die Teilung erzwungenen so unterschiedlichen Lebenswegen der Menschen in Ost und West."
Dann zitierte Merkel aus einem Sammelband über die CDU, der sie selbst beschreibt:
"Sie, die als Fünfunddreißigjährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biographie in den Wendetagen zur CDU kam, konnte natürlich kein 'von der Pike auf' sozialisiertes CDU-Gewächs altbundesrepublikanischer Prägung sein."
Tatsächlich ist an dieser Beschreibung etwas Wahres dran. In einem Interview – kurz nach der Wende zum geschilderten Zeitpunkt – äußerte Merkel gegenüber "basisdemokratischen Strukturen Misstrauen". Doch in Halle versuchte Merkel, ihr eigenes Schicksal auf das anderer DDR-sozialisierter Bürger zu übertragen:
"Ich möchte es vielmehr als Bürgerin aus dem Osten erzählen, als eine von gut 16 Millionen Menschen, die in der DDR ein Leben gelebt haben, die mit dieser Lebensgeschichte in die Deutsche Einheit gegangen waren und solche Bewertungen immer wieder erleben – und zwar, als zähle dieses Leben vor der Deutschen Einheit nicht wirklich. [...] Bis heute – davon bin ich überzeugt – wird zu wenig gesehen, dass die Wiedervereinigung für die allermeisten Menschen in Westdeutschland im Wesentlichen bedeutete, dass es weiterging wie zuvor, während sich für uns Ostdeutsche fast alles veränderte: Politik, Arbeitswelt, Gesellschaft. Wer in seinem Leben vorankommen wollte, musste sich natürlich mit verändern."
Doch das schafften viele nicht, oder wollten es einige einfach nicht schaffen:
"Zugleich aber fanden sich nicht wenige, die ihren Weg in der völlig neuen Lebensumwelt zu gehen versuchten, in einer Sackgasse wieder. So manche berufliche Fähigkeit, die früher gefragt war, zählte plötzlich wenig oder gar nicht mehr. Das war die andere Seite. Auch solche deprimierenden Erfahrungen sind Teil unserer Geschichte."
Dann kommt die Kanzlerin doch noch auf ihre umstrittene Flüchtlingspolitik zu sprechen – als eine einzige Erfolgsgeschichte – und zitierte wieder über sich, diesmal aus einem Artikel in der Welt:
"Und sie tat etwas, was keiner ihrer Amtsvorgänger je getan hatte: Sie distanzierte sich einen Atemzug lang von der Republik, deren zweite Dienerin sie doch war. Sie sagte: Wenn man sich dafür entschuldigen müsse, in der Flüchtlingskrise ein freundliches Gesicht gezeigt zu haben, 'dann ist das nicht mein Land'. Da blitzte einen Moment lang durch, dass sie keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin ist."
Vielleicht ist es ja tatsächlich nicht mehr Merkels Land – oder?
"Was also ist mein Land? – Ein Land, in dem alle miteinander immer neu lernen. Ein Land, in dem wir 'gemeinsam Zukunft formen', wie es das Motto des diesjährigen Tages der Deutschen Einheit sagt. Ein Land, in dem gerade auch die Erfahrung von Umbrüchen in familiären Biografien, in dem die Anstrengung, aber auch das Glück, das es bedeuten kann, neu anfangen zu müssen oder zu dürfen, als eine Erfahrung anerkannt wird, die uns gemeinsam Zuversicht und Stärke gibt. Ein Land, dessen Erfahrung der Wiedervereinigung uns auch bei der Bewältigung heutiger Transformationsprozesse durch Klimaschutz oder digitalen Fortschritt helfen kann, weil wir mit dieser Erfahrung in besonderer Weise um unsere Verantwortung wissen, dass jeder Mensch Chancen braucht, dass jede und jeder Einzelne sich gehört und zugehörig fühlen können muss."
Aber bekommt tatsächlich jeder die gleichen Chancen (und mittlerweile auch Rechte) in diesem Land, auch wenn der etwa den bundesrepublikanischen Konsens zur Flüchtlings- oder zur Corona- oder zur Klimapolitik in Frage stellt? Dann gilt es doch wohl einzig und allein, seine persönlichen Interessen zum Gemeinwohl aller zurückzustellen. Mittlerweile sollte endlich auch der letzte gelernt haben, wie wichtig SOLIDARITÄT ist – und zwar damals wie heute:
"Es ist ja vor allem dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, aus dem Veränderungsbereitschaft und Solidarität erwachsen. Beides half uns über die Mühen der Wiedervereinigung hinweg. [...] Veränderungsbereitschaft und Solidarität waren auch die entscheidenden Werte bei der existentiellen Herausforderung der Pandemie. Ohne die wechselseitige Fürsorge, ohne die Bereitschaft, sich einzuschränken, um Leben zu schützen, wäre das nicht möglich gewesen."
Und manchmal ist der Preis für solche SOLIDARITÄT schlichtweg die Freiheit – das ist manchmal einfach alternativlos:
"Ich weiß, dass der Preis sehr hoch war. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2020, also 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, die Freiheitsrechte einzuschränken, ist mir ungeheuer schwergefallen. Etwas als politische Notwendigkeit zu erachten und zugleich als demokratische Zumutung zu empfinden – das zähle ich zu den schwierigsten Erfahrungen in meiner Amtszeit als Bundeskanzlerin."
Doch ein nationalstaatliches Deutschland fernab der EU hat in einer globalisierten Welt sowieso keine Chance, deshalb müsse der Fokus weit darüber hinausgehen und es müsse – auch von Deutschland – noch mehr "Verantwortung" auch im Ausland übernommen werden:
"Europa steht nicht mehr in dem Maße in der weltweiten Aufmerksamkeit wie zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, der unseren Kontinent teilte. Für uns Europäer bedeutet das, dass uns mehr Verantwortung zukommt – für unsere eigene Sicherheit, aber auch für die Stabilität in Nachbarregionen. Kriege, Krisen und Konflikte auf dem Balkan, in Afghanistan und Afrika machen es für das wiedervereinte Deutschland unabdingbar, Verantwortung international neu zu definieren und wahrzunehmen."
Das war dann auch eine gelungene Überleitung, denn:
"Menschen in der DDR, die sich mutig für Freiheit stark gemacht haben, haben Verantwortung für Freiheit und Demokratie übernommen. Alle, die an der Einheit mitgearbeitet haben, haben Verantwortung übernommen."
Und wer weiß, vielleicht erleben wir ja bis zur Regierungsbildung doch noch eine Neujahrsansprache mit einer aus der DDR stammenden Bundeskanzlerin – die sich noch ein allerletztes Mal dieser großen Verantwortung stellt.
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