Die Corona-Krise und die damit verbundene Politik werden bei der Bundestagswahl am Sonntag eine Rolle spielen, meint der SPD-Bundestagsabgeordnete und Mediziner Karl Lauterbach. Gegenüber der sozialdemokratischen Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (NFGH) erklärte er, er wisse aber nicht, ''in welche Richtung das gehen wird''.
''Für mich als Wissenschaftler und Politiker ist es undenkbar, dass etwas, was uns eineinhalb Jahre intensiv beschäftigt hat, keine Bedeutung für die Wahlen haben soll.''
In einigen Analysen der Wahlprogramme vor allem der etablierten Parteien wurde festgestellt, dass in diesen die Corona-Politik und die am 11. März 2020 von der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufene COVID-19-Pandemie fast keine Rolle spielt. Damit werde ein wichtiges Thema weggelassen, stellten namhafte Wissenschaftler, Mediziner, Künstler und andere Experten fest und richteten deshalb in einem Offenen Brief Forderungen an die Parteien.
Kein ''Weiter so'' nach der Wahl?
Der Wissenschaftler und Publizist Karsten Montag hat für das Onlinemagazin Multipolar das Abstimmungsverhalten der bisher im Bundestag vertretenen Parteien zur Corona-Politik analysiert. Er meint, dass eine nach dem 26. September möglicherweise weiterregierende Große Koalition keine zukünftige Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite unter den aktuellen gesetzlichen Voraussetzungen im Bundestag durchsetzen könne. Alle Oppositionsparteien im Bundestag ''haben sich für einen geordneten Ausstieg aus der Notlagen-Politik ausgesprochen'', so Montag.
''Es ist also abzusehen, dass sich für eine Corona-Politik auf Basis von Notverordnungen nach der Wahl am 26. September höchstwahrscheinlich keine Mehrheit mehr im Bundestag finden lässt. Wie schnell wir in Deutschland dann ein Ende der Maßnahmen wie derzeit in Schweden, Dänemark und Großbritannien erfahren, hängt stark davon ab, ob es weiterhin bei einer großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD bleibt und welche Partei eventuell als dritter Koalitionspartner hinzustößt.''
Auch SPD-Politiker Lauterbach spricht sich im aktuellen September-Heft der NGFH immerhin für eine veränderte Politik aus, ohne die Grundlinien korrigieren zu wollen:
''Corona ist also nicht besiegt, die Pandemie geht weiter. Aber die akute Phase ist für den größten Teil der Bevölkerung vorbei.''
Aus seiner Sicht sind nur noch jene gefährdet, ''die durch die Impfkampagne nicht erreicht werden konnten''.
Lauterbach fordert einen ''ständigen Pandemierat oder ein Pandemieinstitut''. Diese Institution solle ''quasi so etwas wie ein Frühwarnsystem'' darstellen und frühzeitig auf neue Pandemien aufmerksam machen, ''sodass wir schneller reagieren können''. Dieser Punkt ist bisher nicht Teil des SPD-Programms. Aber der Abgeordnete, der gern Bundesgesundheitsminister in einer neuen Regierung wäre, hofft, dass das dort noch aufgenommen wird. Er sei dazu in Kontakt mit SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz.
Erst die Impfung, dann die Vorbeugung
Zudem will der SPD-Abgeordnete die Forschung in dem Bereich ausbauen: ''Wir brauchen mehr wissenschaftliche Erkenntnis in der Epidemiologie.'' Das dafür zuständige Robert-Koch-Insitut (RKI), das dem Bundesgesundheitsministerium untersteht und derzeit vom Tiermediziner Lothar Wieler geleitet wird, reicht Lauterbach anscheinend nicht aus. Er hält es für ''sinnvoll, wenn wir dafür ein eigenes großes staatliches Institut oder zumindest eine Arbeitsgruppe in einem Institut in Berlin hätten''.
Ebenso fordert er, ''dass wir in Deutschland eine staatlich geförderte Impfstoffforschung, sowie eine Kapazität zur Produktion von Impfstoffen aufbauen''. Erst am Ende des Interviews sagt er, dass mehr für Vorbeugung getan werden müsse:
''Es hat sich in dieser Pandemie gezeigt, dass die Menschen am schlimmsten betroffen gewesen sind, die nicht nur alt sind, sondern die viele chronische Erkrankungen haben. Wir sollten also konsequent weiter daran arbeiten, die chronischen Erkrankungen in der Bevölkerung zu reduzieren.''
Deshalb müsse mehr getan werden, ''dass Menschen keine Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln, wir müssen mehr bei der Bekämpfung von Adipositas tun'', so Lauterbach. ''Wir brauchen einfach eine ganz andere Art und Weise, wie wir uns ernähren.'' Das sagen Ärzte und Wissenschaftler, die sich kritisch zur impffixierten Corona-Politik der Regierung äußern, seit Langem.
Diagnose: Gespaltene Gesellschaft
Der SPD-Politiker sagt weiter, dass er nicht findet, dass die Wissenschaft der Politik das Ruder aus der Hand genommen hat. Auch weist er die verbreitete Kritik am angeblich hinderlichen Föderalismus in der Bundesrepublik zurück. Aus seiner Sicht hat die vom Grundgesetz als Entscheidungsinstanz vorgesehene Ministerpräsidentenkonferenz sowie deren Beratungen mit der Bundesregierung in der Corona-Krise nicht gut funktioniert.
Lauterbach bestätigt den Eindruck, dass die Gesellschaft gespalten ist: ''Meine subjektive Beobachtung ist, dass der Kern der Gesellschaft zusammengerückt ist und die Maßnahmen, die wir getroffen haben, nicht nur mitgetragen hat, sondern sich auch sehr für Politik und das, was wir da gemacht haben, interessiert hat. Sie hat Zustimmung signalisiert und auch die entscheidenden Akteure getragen.''
Auf der anderen Seite habe sich ''eine parallele Gruppe gebildet, die die Maßnahmen, die wir beschlossen haben, von vorneherein abgelehnt hat, und die in eine Fundamentalopposition gegangen ist''. Das seien ''die Querdenker, aber auch andere Gruppen, die den Staat und das Staatshandeln, welches wir praktizieren mussten, grundsätzlich ablehnen und eine libertäre, zum Teil rechtsnationale Position vertreten''. Diese Gruppe sei ''sehr viel stärker geworden'' und setze auch ihm jeden Tag zu, beklagt Lauterbach.
Bürgerversicherung und Krankenhäuser erhalten
Er will den öffentlichen Gesundheitsdienst in der Bundesrepublik ausbauen und die dort tätigen Ärzte besser bezahlen. Ebenso wiederholt er Forderungen, die er seit Jahren vertritt, sodass ''die Zwei-Klassen-Versorgung beseitigt und eine wirklich gute Versorgung für alle ermöglicht'' wird. Dazu gehört für ihn die Bürgerversicherung, aber auch eine besser vergütete Pflege.
Lauterbach widerspricht in der NGFH außerdem jenen, die sich dafür aussprechen neben den 21 allein im Jahr 2020 geschlossenen Krankenhäusern weitere zu schließen. Öffentliche und kleinere Krankenhäuser, ''selbst wenn sie nicht öffentlich sind'', müssten besser abgesichert werden, so der SPD-Politiker.
Sie sollen ''die Routineversorgung, etwa auf dem Land, leisten können, ohne dass sie dafür Leistungen erbringen müssen, die zwar lukrativ sind, aber dann zu oft gemacht werden müssen und nicht wirklich dazu beitragen, dass die Versorgung besser wird''. Lauterbach stellt klar: ''Wir brauchen die kleinen Krankenhäuser, die sich aber auf die Routine- und Basisversorgung konzentrieren können müssen.''
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