Rudolf Scharping ist ehemaliger SPD-Vorsitzender, ehemaliger Verteidigungsminister, ehemaliger Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und war 1994 Kanzlerkandidat der SPD. Er hat in seiner Karriere einige Wahlkämpfe erlebt und meldet sich nun zu Wort anlässlich des Wahlkampfes zur Bundestagswahl am 26. September.
In seinem Gastbeitrag in der Zeit hebt Scharping hervor, dass der aktuelle Wahlkampf keineswegs "von einer Härte" sei, "die es nie gab". Für jene, die glauben, "heutige Wahlkämpfe seien besonders brutal und persönlich diffamierend", erinnerte Scharping an die heftigen Wahlkämpfe seiner Jugendzeit in den 1960er-Jahren. Da haben "Hardcore-Anhänger der CDU manchmal Steine auf Autos" geworfen, "wenn diese mit einem SPD-Logo beklebt waren". Er erinnert auch an die harten Kampagnen von Konrad Adenauer (CDU) gegen Willy Brandt (SPD). Scharping betont:
"Die Verbissenheit, die Härte, die Bosheit in den Wahlkämpfen dieser Jahre sind heute kaum mehr vorstellbar. Vielleicht erinnern sich viele Grüne nicht daran. Mehrere Spitzenpolitiker der Partei haben in den vergangenen Tagen ja behauptet, es gebe eine Kampagne von nie da gewesener Härte gegen Annalena Baerbock. Einen Wahlkampf, in dem mit Schmutz geworfen werde wie selten zuvor. Ich kann dazu nur sagen: Hört auf zu jammern!"
Für den ehemaligen SPD-Vorsitzenden ist es "sehr normal", was "Frau Baerbock gerade erlebt". Immerhin wolle sie "Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland werden" und "die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt führen". Da sei es nur verständlich, wenn ihre Vita "von allen Seiten durchleuchtet" werde und Journalisten und Mitbürger Fragen stellen.
"Nebenbei zeigt sich in solchen Prozessen: Wie viel Stehvermögen hat sie? Wie sehr ist sie fähig zu führen, bei hartem Gegenwind und widerstreitenden Interessen?"
Scharping erinnerte an seine Kanzlerkandidatur im Jahr 1994 als er gegen den damals schon zwölf Jahre regierenden Helmut Kohl antrat. Der SPD-Politiker gab zu, dass auch ihm "unangenehme Fehler" passiert seien – etwa die Verwechslung von Brutto- und Nettolohn auf einer Pressekonferenz. Damals sei eine Kampagne gegen ihn gestrickt worden, er sei "nicht kompetent genug". Kritik sie damals von außen und auch von der eigenen Partei gekommen. Im Satiremagazin Titanic sei Scharping als Ziege und Kohl als Birne dargestellt worden.
Der Wahlkampf 1994 sei sehr heftig gewesen, es habe "richtige Schweinereien" gegeben – "nicht nur in der Wortwahl", wo Begriffe wie "Lügner", "Heuchler" oder "Reaktionär" gefallen seien. Das alles ist rückblickend für den ehemaligen SPD-Kanzlerkandidat "normal":
"Das ist eben Wahlkampf. Und es heißt ja schließlich nicht Wahlspaziergang! Wahlkämpfe haben eine reinigende Wirkung für die Demokratie. Man kann sich zoffen für die Sache. Man muss sich streiten um die großen Themen. Wem es in der Küche zu heiß ist, der soll nicht kochen. Oder, um ein anderes Bild zu verwenden: Mimosen sind nun einmal nicht geeignet für ein hartes Klima."
Scharping wundert sich, in welcher Weise und mit welcher Empörung die Grünen auf Kritik ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock reagieren. Er bezeichnet es als "in grobem Maße unfair", wenn behauptet werde, "Frau Baerbock werde deshalb attackiert, weil sie eine Frau ist".
"Zu glauben, die Deutschen seien eine Frau in einer Machtposition nicht gewohnt und könnten das nicht ertragen, ist eine massive Ignoranz gegenüber Angela Merkel und anderen Frauen in politischen Führungspositionen."
Es sei aber charakteristisch für die Grünen, "moralische Debatten zu führen" und zu behaupten "man wolle vom wichtigen Klimathema ablenken". Für Scharping stellt sich die Lösung andersherum: "Die Grünen vermeiden durch ihre Vorwürfe an die anderen, der Wahlkampf sei angeblich verroht, dass es eine tatsächliche Debatte gibt".
Der ehemalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz spricht den Grünen ab, die alleinige Kompetenz zu haben in Sachen Klimakrise. Zudem habe sich die Partei Bündnis90/Die Grünen selbst lange Zeit unkonkret gehalten, "wenn es darum ging, zu sagen, was ihre Klimapolitik eigentlich genau bedeutet". Für ihn stellt sich der Verdacht, dass "notwendige Sachdebatten einfach unter den Tisch gekehrt werden", wie etwa die soziale und wirtschaftliche Umsetzbarkeit von "Dekarbonisierung der Wirtschaft und der Abschied von Kohle und Atom" oder den Aufstieg eines "starken Rechtspopulismus" in Deutschland. Stattdessen würden "Stilfragen" diskutiert und über "Bücher und Lebensläufe" gestritten.
Scharping ist jedoch zuversichtlich, was die politische Kompetenz der deutschen Bürger angeht:
"Die Menschen sind viel klüger, als manche Politiker oder deren Berater manchmal meinen. Sie können sehr wohl unterscheiden zwischen Attacken durch politische Gegner um der Attacke willen – und zugespitztem inhaltlichem Streit, der Demokratie auszeichnet und lebendig macht. Das Volk hat kein Archiv, aber sehr wohl ein Gedächtnis."
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