Wieder Thüringen: Die Grünen wollen Deutschlands ersten AfD-Stadtratschef in Gera stürzen

Vor fast einem Jahr wurde das AfD-Mitglied Reinhard Etzrodt zum Stadtratschef im thüringischen Gera gewählt. Eine politische Zäsur. Jetzt forcieren die Grünen Etzrodts Rauswurf – denn der gehöre einer "verfassungsfeindlichen Partei" an. Parallelen zur Thüringer Landtagswahl 2020 sind unübersehbar.

Es war eine kleine historische Zäsur – und ein großer Erfolg der AfD: Am 24. September 2020 wurde Reinhard Etzrodt zum neuen Vorsitzenden des Stadtrates im ostthüringischen Gera mit seinen knapp 100.000 Einwohnen demokratisch gewählt. Zum ersten Mal konnte ein AfD-Abgeordneter in Deutschland ein solches Amt erringen.

Ein AfD-Politiker als Stadtratsvorsitzender

Mit Etzrodts Wahl an die Spitze eines Kommunalparlamentes löste Thüringen das zweite politisch-medialen Erdbeben neben Corona als 24/7-Dauerhysterie 2020 aus. Bereits im Februar 2020 war FDP-Mann Thomas Kemmerich mit Stimmen der CDU und der AfD auf demokratischem Wege ebenfalls zum Ministerpräsidenten des Freistaates gewählt worden. Aber nur bis Bundeskanzlerin Angela Merkel die Wahl von Südafrika aus "rückgängig" machen lies, indem sie Kemmerich mit aller Macht zum Rücktritt zwang.

Dabei zeigen sich in gewisser Weise Parallelen zur Thüringer Landtagswahl: Der frühere Gynäkologe Etzrodt kam nämlich nicht nur dank seiner AfD an die Macht, die mit zwölf Mitgliedern die stärkste Fraktion im Stadtrat stellt. Mindestens zwei Stimmen bekam er auch von CDU, SPD, FDP, Grünen oder Linken – auch wenn das offiziell alle bestreiten. Für die CDU legte sogar die damalige Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Hand ins Feuer, wie der Focus vermeldet.

Grüne "Verfassungsschützer"

Die Grünen wollen den Arzt nach knapp neunmonatiger Amtszeit aus heiterem Himmel von der Spitze stoßen. Bei der nächsten Sitzung des Stadtrates am 16. Juni wird die Fraktion offiziell die Abberufung des Vorsitzenden beantragen, so Focus Online.

In der entsprechenden Beschlussvorlage heißt es:

"Ein Mitglied einer gesichert rechtsextremistischen Partei ist nicht geeignet, dem Stadtrat der Stadt Gera vorzusitzen."

Etzrodt sei daher von seinem Amt "abzuberufen".

Begründet wird der Antrag damit, dass der Thüringer Verfassungsschutz den Landesverband der AfD unter ihrem Chef Björn Höcke seit März 2021 als erwiesen rechtsextremistisch einstuft. Damit sei auch mit Etzrodt ein "Mitglied einer rechtsextremistischen und verfassungsfeindlichen Partei Vorsitzender des Geraer Stadtrates", so die Grünen.

So äußern sich die einzelnen Parteien:

RT DE hat alle elf Parteien im Geraer Stadtrat zum Sachverhalt angeschrieben, der sich folgendermaßen zusammensetzt:

Dabei gab es die Rückmeldungen von der FDP, der Wählervereinigung/Fraktion FÜR GERA, Die Linke, Fraktion Bürgerschaft Gera und Bündnis90/Die Grünen.

Falk Nerger, Kreisvorsitzender der FDP Gera antwortete auf die Fragen von RT DE:

1. Wie steht die FDP zu der geplanten Abberufung des AfD-Politikers Reinhard Etzrodt?

"Die FDP Gera respektiert den Wählerwillen der Geraer Bevölkerung und erkennt die Wahlergebnisse, die aus diesem demokratischen Prozess resultieren, an. Als Grundlage für die Arbeit des Stadtrates gilt neben der Geschäftsordnung die von den Stadtratsmitgliedern selbst festgelegte Hauptsatzung. Diese wurde von der Mehrheit der gewählten Mitglieder des Stadtrates für die Dauer der Legislaturperiode festgelegt und repräsentiert den mehrheitlichen Willen des Stadtrates."

Daher ist für die FDP in Gera klar:

"Die seit Jahren bewährte und in der Hauptsatzung festgeschriebene Tradition, den Vorsitzenden des Stadtrates von der stärksten Fraktion vorschlagen zu lassen, wurde im Hinblick auf das auskömmliche Arbeiten zum Wohle der Stadt akzeptiert. Versuche, die bisherige Praxis aus parteitaktischen Überlegungen nach der Kommunalwahl zu ändern und die Hauptsatzung neu auszulegen, lehnte unsere Fraktion als undemokratisch ab."

2. Wie schätzt die FDP die Arbeit des AfD-Politikers Etzrodt ein? Welche Rolle spielt seine Parteizugehörigkeit für die Position als Vorsitzender des Geraer Stadtrates?

"Aus der Mitte des Stadtrates wurde Herr Dr. Etzrodt, außerhalb seines politischen Engagements ein anerkannter Bürger der Geraer Stadtgesellschaft, von der Mehrheit der Mitglieder des Stadtrates gewählt. Seine Wahl entsprach demokratischen Maßstäben sowie den Vorgaben der Hauptsatzung und der Geschäftsordnung des Stadtrates Gera. Diese demokratisch legitime Entscheidung akzeptiert die Geraer FDP."

Die will sich auf die eigentliche Arbeit eines Stadtrates konzentrieren: 

"Wir appellieren an sämtliche Mitglieder des Stadtrates, sich für ihre eigentliche Tätigkeit einzusetzen: das Wohl der Geraer Bevölkerung und unserer Heimatstadt Gera. Lassen wir uns nicht in deutschlandweit beachteten Grabenkämpfen verlieren. Der Zusammenhalt in der Bevölkerung und die konstruktive Sacharbeit im Interesse unserer Heimatstadt Gera sind unser Ziel und Wirken und nicht die Spaltung der Gesellschaft oder populistische Machtspielchen."

Sandra Raatz, Vorstandsmitglied und Fraktionsvorsitzende der Wählervereinigung FÜR GERA e. V. gab folgende Antworten auf die Fragen von RT DE:

Frage 1: Bei der nächsten Sitzung des Stadtrates am 16. Juni werden die Grünen offiziell die Abberufung des Vorsitzenden des Geraer Stadtrates beantragen. Wie steht die Wählervereinigung FÜR GERA diesem Vorhaben gegenüber?

"Grundsätzlich gibt es zu diesem Thema in unserer Wählervereinigung differenzierte Meinungen. Unsere politische Arbeit ist jedoch überparteilich, frei von Ideologien und ausschließlich an der Sache orientiert. Daher respektieren wir es, dass die AfD als stärkste Fraktion des Stadtrates gewählt wurde und auch, dass diese den Stadtratsvorsitzenden vorschlagen darf. Dieser wurde in einem demokratischen Prozess aus der Mitte des Stadtrates gewählt. Eine Umkehr dieses Prozesses durch Abberufung und Neuwahlen tragen wir mehrheitlich nicht mit. Jedoch müssen wir uns, wie auch alle anderen Parteien, die Frage stellen, wie es zu diesen Wahlergebnissen kam und unsere Arbeit kritisch hinterfragen."

Frage 2: Wie schätzen Sie die Arbeit des AfD-Politikers Reinhard Etzrodt ein? Welche Rolle spielt seine Parteizugehörigkeit für die Position als Vorsitzender des Geraer Stadtrates?

"Herr Dr. Etzrodt sticht in seiner Fraktion als eine der konstruktiven und sachorientierten Personen heraus. Er ist immens bemüht, seiner Verantwortung als Stadtratsvorsitzender gerecht zu werden. Seine Parteizugehörigkeit sollte dabei eine untergeordnete Rolle spielen. Diesem Anspruch wird Herr Dr. Etzrodt auch meistens gerecht. Als Mensch wird er von vielen geschätzt. Gleichwohl ist es jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass es dem Image unserer Stadt nicht zuträglich ist, wenn ein Vertreter einer vom Verfassungsschutz beobachteten Partei an der Spitze des kommunalen Parlaments steht."

Andreas Schubert, Fraktionsvorsitzender Die Linke erläuterte lapidar zu unseren Fragen:

Bei der nächsten Sitzung des Stadtrates am 16. Juni werden die Grünen offiziell die Abberufung des Vorsitzenden des Geraer Stadtrates beantragen. Wie steht Die Linke diesem Vorhaben gegenüber? Wie schätzen Sie die Arbeit des AfD-Politikers Reinhard Etzrodt ein? Welche Rolle spielt seine Parteizugehörigkeit für die Position als Vorsitzender des Geraer Stadtrats?

"Ihre Anfrage beantworte ich gleichlautend zu ähnlichen Anfragen (Fokus, u. a.): Die Fraktion Die Linke im Geraer Stadtrat wird dem Antrag zustimmen und trägt die Begründung inhaltlich mit. Zudem hat der aktuelle Stadtratsvorsitzende wiederholt deutlich gemacht, dass er mit diesem Amt nicht nur organisatorisch überfordert ist, sondern auch parteiisch agiert."

Ulrich Porst als Vorsitzender der Fraktion Bürgerschaft Gera antwortete folgendermaßen auf die Frage 1: Bei der nächsten Sitzung des Stadtrates am 16. Juni werden die Grünen offiziell die Abberufung des Vorsitzenden des Geraer Stadtrats beantragen. Wie steht die Fraktion Bürgerschaft Gera diesem Vorhaben gegenüber?

"Im September 2020 wurde der AfD-Politiker, Herr Dr. Reinhard Etzrodt, zum Vorsitzenden des Stadtrates in Gera gewählt. Laut Hauptsatzung der Stadt Gera in der gültigen Fassung vom 16.04.2014 ist im § 9 der Vorsitz im Stadtrat geregelt. Dies war auch in den davor gültigen Satzungen so. Hier heißt es:

'Der Stadtrat wählt auf Vorschlag der Fraktion, die bei der Stadtratswahl die meisten Stimmen erreichte, aus seiner Mitte einen Vorsitzenden, dem die Leitung der Stadtratssitzung obliegt.'

Seit Jahren hat aufgrund dieser Regelung die Fraktion Die Linke den Vorsitzenden, ohne Diskussion der anderen Stadtratsfraktionen, gestellt. Eine Anpassung der Hauptsatzung war vor der Stadtratswahl 2019 durch die Fraktion Bürgerschaft Gera in die Diskussion eingebracht worden. Dies wurde mehrheitlich diskutiert, aber nicht weiterverfolgt. Somit ist die Regelung, so wie sie ist, auch mit den Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach wie vor anzuwenden.

Im Ergebnis der Stadtratswahl 2019 hatte die AfD-Fraktion mit 12 von 42 Stadträten mit Abstand die Mehrzahl im Stadtrat. Ihr folgen Die Linke mit 8 Stadträten usw. Trotz dieser eindeutigen Regelung in der Hauptsatzung kam es im Jahr 2019 nicht zur Wahl des Stadtratsvorsitzenden. Erst nach längeren, auch rechtlichen Auseinandersetzungen kam es dann 2020 zur Wahl von Herrn Dr. Etzrodt, einem Frauenarzt im Ruhestand."

Er resümiert: 

"Nach unserem Kenntnisstand ist die AfD eine Partei, die bundesweit zugelassen ist. Solange dies der Fall ist, sind wir der Auffassung, dass die Regelungen in der Hauptsatzung der Stadt Gera auch auf sie in der Anwendung volle Gültigkeit haben."

Frage 2: Wie schätzen Sie die Arbeit des AfD-Politikers Reinhard Etzrodt ein? Welche Rolle spielt seine Parteizugehörigkeit für die Position als Vorsitzender des Geraer Stadtrates?

"Jeder, der eine neue Aufgabe übernimmt, muss sich entsprechend damit vertraut machen und so hat sich auch Herr Dr. Etzrodt in dieses wichtige Amt eingearbeitet. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, eine Stadtratssitzung zu leiten, unter Beachtung der nicht wenigen Regelungen, die einzuhalten sind, ist er sukzessive in diese Aufgabe "hineingewachsen" und bemüht sich, diese Rolle unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit auszuüben. Auch dies gelingt ihm nunmehr besser als am Anfang. Seine dabei stets ruhige und besonnene Art wird ihm allerdings vom rot-rot-grünen Lager als Schwäche ausgelegt. Dies sehen wir nicht so."

Nils Fröhlich, Vorsitzender Stadtratsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Gera gab folgende Auskünfte:

1. Frage: Die AfD ist eine Partei, die bundesweit zugelassen ist. Auf welcher gesetzlichen Basis wollen die Grünen bei der nächsten Sitzung des Stadtrates am 16. Juni den Vorsitzenden des Geraer Stadtrates abberufen?

"Der Vorsitzende des Stadtrates wird durch die Stadtratsmitglieder – demokratisch – gewählt. Genauso demokratisch kann der Stadtrat gemäß § 23 Abs. 1 Satz 4 Thüringer Kommunalordnung den Vorsitzenden jederzeit abberufen."

2. Frage: Bereits am 12. Mai 2021 hatte der Grünen-Stadtrat und Jugendrichter Eugen Weber den AfD-Politiker Etzrodt zum Rücktritt aufgefordert. Doch der Vorstoß verfehlte die notwendige Zweidrittelmehrheit. Mit welchen Chancen rechnen die Grünen bei ihrem neuen Abberufungsantrag, der in gut zwei Wochen eingebracht werden soll?

"Die Chancen des neuerlichen Antrages sind gut. Alle Stadtratsmitglieder wurden bei Antritt ihres Mandates darauf verpflichtet, die Verfassung des Freistaates Thüringen und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht nur zu achten, sondern auch vor den Feinden der Verfassung zu schützen. Der Verfassungsschutz des Freistaates Thüringen hat kürzlich die AfD als gesichert rechtsextremistisch eingestuft und bescheinigt ihr Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die AfD Thüringen ist also hinsichtlich ihrer Ziele eine undemokratische und verfassungsfeindliche Organisation."

Aufgrund dieser Aussage fordern die Grünen:

"Wir erwarten, dass alle demokratischen Stadtratsmitglieder ihrer Verpflichtung nachkommen und zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und auch zum Schutz der demokratischen Institution des Stadtrates der Abberufung zustimmen. Ein Mitglied einer demokratiefeindlichen Organisation sollte nicht einem demokratischen Gremium vorsitzen und demokratische Stadtratsmitglieder in Ausübung ihres Mandates reglementieren."

3. Frage: Falls die Grünen mit ihrem Antrag erfolgreich sein sollten, welche Signalwirkung könnte dies haben?

"Im Falle der Beschlussfassung besteht die Signalwirkung darin, dass alle demokratischen Parteien und Fraktionen im Stadtrat für alle sichtbar ihre Verantwortung zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ernst nehmen."

Um die Abwahl des AfD-Mannes durchzusetzen, reicht laut Thüringer Kommunalordnung die einfache Mehrheit.

Noch keine Rückmeldung gab es von AfD – Herr Frank und Etzrodt wollen keine Stellungnahmen an die Presse vor der Sitzung am 16. Juni geben.

Eventuell kommen diese Woche noch die Antworten von SPD und CDU, wie ihre Sprecher am Telefon mitgeteilt haben. RT DE wurde zugesichert, dass die Anfragen bereits an die Fraktionsvorsitzenden weitergeleitet wurden.

Gegenüber dem Focus antwortete SPD-Fraktionschefin Monika Hofmann:

"Selbstverständlich wird die SPD-Fraktion der Beschlussvorlage der Fraktion B90/Grüne zustimmen. Herr Etzrodt ist nicht nur wegen seiner Parteizugehörigkeit für diese Position ungeeignet. Eine AfD, die Menschen wie Herrn Höcke oder Herrn Brandner als Spitzenkandidaten für Landtags- oder Bundestagswahl platziert, ist weit davon entfernt, auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stehen."

Die CDU, die bei der Abstimmung als Zünglein an der Waage gilt, äußert sich zurückhaltend. Fraktionschef Christian Klein sagte zu Focus Online, er habe sich mit seinen Kollegen zur Personalie Etzrodt "jetzt noch nicht abschließend verständigt. Die Fraktionssitzung steht noch aus." Allerdings herrsche in seiner Partei kein Abstimmungszwang. "Das muss jeder für sich selbst entscheiden."

Zugleich erklärte Klein, er könne sich "nicht vorstellen, dass jemand aus unserer Fraktion gegen den Vorschlag der Grünen stimmt". Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die CDU-Stadtratsmitglieder aktiv für die Abwahl Etzrodts stimmen könnten oder sich enthalten.

Die Partei ist auch im Stadtrat vertreten. Sie wurde auch per E-Mail von RT DE angefragt, hat sich aber noch nicht zurückgemeldet. Auf ihrer Webseite steht keine Telefonnummer, nur E-Mail-Adressen. Aus diesem Grund konnten wir ihre Vertreter nicht telefonisch ansprechen.

Grundsätzlich bleibt es also spannend in Ostthüringen und weit darüber hinaus – bis zum 16. Juni kann noch einiges passieren. 

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