In der Corona-Krise hatten der Lockdown und die damit verbundene soziale Isolation, das Homeoffice und finanzielle Sorgen bei zahlreichen Menschen zu einer deutlichen Zunahme von psychischen Problemen geführt. Nicht nur verschiedene Krankenkassen hatten bei Erhebungen bei Menschen unter 60 Jahren eine deutliche Zunahme von Symptomen psychischer Erkrankungen festgestellt.
Auch die "NAKO-Gesundheitsstudie", die unter anderem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wurde, kam zu dem Ergebnis, dass Menschen unter 60 Jahren infolge des Lockdowns deutlich häufiger Symptome von Angst oder Depressionen aufweisen.
Bereits vor der Corona-Krise und der durch die Maßnahmen bedingten Zunahme an psychischen Erkrankungen hatten es Betroffene schwer, da in Deutschland Versorgung mit ambulanter Psychotherapie nicht dem Bedarf entspricht. Für Betroffene ist es entsprechend schwer, rechtzeitig behandelt zu werden. Laut Psychotherapeuten-Verbänden liegt dies am Berechnungssystem der kassenärztlichen Vereinigungen, das sich in den letzten Jahren nicht an die steigende Behandlungsnachfrage angepasst habe.
Sofern sie nicht privatversichert sind oder selbst für die Behandlung zahlen, müssen die Patienten enorme Wartezeiten in Kauf nehmen: Laut einer Umfrage des Verbandes für psychologische Psychotherapeuten liegt die Wartezeit für einen ambulanten Therapieplatz bei sechs Monaten. Und obwohl die Hürden für einen Therapieplatz bereits in den letzten Jahren hoch waren und die Zahl der psychischen Erkrankungen infolge des Lockdowns deutlich zunimmt, soll die Hürde durch einen Gesetzesentwurf des Bundesgesundheitsministeriums offensichtlich noch höher werden.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) plant, in einem Gesetzesentwurf zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung die Maßstäbe zur Behandlung von psychisch Erkrankten zu verändern: Anstelle einer individuellen Diagnose und Behandlung soll nun mittels groben Rastern festgelegt werden, wie lange ein Patient je nach Erkrankung behandelt werden darf.
Somit soll schon zu Beginn der Behandlung festgelegt werden, wie viele Behandlungsstunden aufgrund einer gestellten Diagnose genehmigt werden. Bereits 2018 hatte Spahn entsprechende Pläne entworfen, die Vergabe von Psychotherapieplätzen neu zu regeln, um die Wartezeiten zu verkürzen. Laut einem entsprechenden Änderungsantrag des Bundesgesundheitsministeriums soll der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss bis zum 31. Dezember 2022 prüfen, "wie die Versorgung von psychisch kranken Versicherten bedarfsgerecht und schweregradorientiert sichergestellt werden kann".
Von Fachverbänden wurde der Entwurf unterdessen scharf kritisiert. Dietrich Muntz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, erklärte:
"Solche Raster-Psychotherapie ist das Ende qualitativ hochwertiger und an der einzelnen Patient*in orientierte Versorgung."
Es sei zu befürchten, dass künftig mit einem rigiden Raster festgelegt werde, wie schwer Patienten erkrankt sein müssen, um eine Behandlung zu erhalten. Diese "holzschnittartige" Psychotherapie sei "oberflächlich und lückenhaft". Zudem stellte die Bundespsychotherapeutenkammer in einer Mitteilung fest, dass das Vorgehen des Gesundheitsministeriums mehr als fragwürdig sei:
"Gesundheitspolitik gegen psychisch kranke Menschen in letzter Minute in ein Gesetz einzufügen, das bereits im Bundestag und Gesundheitsausschuss beraten wurde, zeugt außerdem von einem zweifelhaften Verständnis demokratischer Prozesse."
Auch in den sozialen Medien hagelte es unter dem Hashtag #Rasterpsychotherapie scharfe Kritik am Gesetzentwurf. Viele Betroffene versuchten, die Tragweite dieser neuen Regelung deutlich zu machen. Andere Nutzer erklärten, dass es bei Spahns Gesundheitspolitik nicht um das Wohl der Patienten gehe, sondern um die Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Angesichts der Situation warfen zahlreiche Nutzer Spahn Unkenntnis und auch Zynismus vor. Auch die Petition "Keine #Rasterpsychotherapie, Herr Spahn!" auf dem Portal change.org wurde mittlerweile von mehr als 150.000 Menschen unterzeichnet.
Positiv äußerte sich jedoch der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, für den die Kritik der Bundespsychotherapeutenkammer "nicht nachvollziehbar" sei. Auch die AOK erklärte dem Neuen Deutschland, dass die Entscheidungen sich immer noch zu wenig nach Schwere und Aktualität der Erkrankungen richten, was für eine "Ressourcenverschwendung" sorge.
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