Anfang Mai hatte die Berliner Zeitung Der Tagesspiegel in einem Bericht über die Künstler-Aktion #allesdichtmachen weit ausgeholt. In Zusammenarbeit mit anonymen "Journalist:innen des Recherchenetzwerk Antischwurbler" [Gender-Sprachregelung im Original] versuchten die Autoren Andreas Busche und Hannes Soltau, "das Netzwerk hinter #allesdichtmachen" aufzudecken. Heraus kam eine Zusammenstellung von Spekulationen und zum Teil unbelegten Unterstellungen. Dafür hat sich die stellvertretende Tagesspiegel-Chefredakteurin Anna Sauerbrey öffentlich in einer Video-Gesprächsrunde entschuldigt.
Besonders den Berliner Notarzt und Begründer der Initiative 1bis19 Paul Brandenburg hatten sich die Tagesspiegel-Autoren herausgepickt. Brandenburg sei "eine dubiose Figur" und "ominöser Drahtzieher" der gesamten Aktion #allesdichtmachen. Der Tagesspiegel setzt noch einen drauf: Brandenburg sei "Teil einer größeren Kampagne, die eine antidemokratische Agenda verfolgt". Die Sache hatte einen Haken: Brandenburg selbst wurde nicht angefragt. Als Quelle diente die anonyme Vereinigung "Journalist:innen des Recherchenetzwerk Antischwurbler".
Der Tagesspiegel musste einlenken. Der Artikel wurde überarbeitet und mit einer Korrektur versehen:
"Der Tagesspiegel hat sich entschieden, das Netzwerk anders als in der ursprünglichen Überschrift zu diesem Zeitpunkt nicht als 'antidemokratisch' zu bezeichnen."
Zur weiteren Richtigstellung lud der Tagespiegel Brandenburg zu einer Live-Gesprächsrunde ein. Moderiert von der stellvertretenden Chefredakteurin Sauerbrey diskutierten der Tagesspiegel-Autor Harald Martenstein, Joachim Huber, Leiter des Medienressorts beim Tagesspiegel, und Sascha Karberg, Leiter der Tagesspiegel-Wissenschaftsredaktion, mit Brandenburg über die Frage "Alles richtig gemacht bei #allesdichtmachen?".
Gleich zu Beginn entschuldigt sich Sauerbrey bei Brandenburg und räumt ein:
"Es ist richtig, dass wir Paul Brandenburg nicht um eine Stellungnahme gebeten haben. Das war sicherlich ein schwerer handwerklicher Fehler."
#allesdichtmachen "eine konzentrierte und konzertierte Aktion"?
In der nachfolgenden Diskussionsrunde ging es um die Aktion #allesdichtmachen und ob hinter dieser ein Netzwerk bestehe sowie wie mit der Aktion und generell mit Kritikern der Corona-Maßnahmen medial umgegangen werde. Der Tagesspiegel-Kolumnist Martenstein verteidigte die Aktion. Seiner Ansicht nach dürfe es keine Tabuzonen geben – über alle Themen müsse gestritten werden dürfen. Martenstein kritisierte die Berichterstattung des Tagesspiegel deutlich. Es sei nicht legitim, dass die Schauspieler von #allesdichtmachen direkt in die rechte Ecke gestellt würden.
Wissenschaftsredaktions-Leiter Karberg gab zu, selbst nicht mehr als drei Videos von #allesdichtmachen gesehen zu haben. Dennoch resümierte er die ganze Aktion als geschmacklos. Er habe vor allem die Argumente vermisst und die Videos als "inhaltsleer" empfunden.
Der Leiter des Medienressorts Huber verteidigte die Berichterstattung der Zeitung. Man habe eine intensive Recherche betrieben, um zu hinterfragen, woher die Aktion #allesdichtmachen komme, die "nach einer sehr konzentrierten und konzertierten Aktion" aussehe: "Wer hat dies Aktion ins Werk gesetzt?" Auch Sauerbrey hinterfragte, ob es bei der Aktion "nicht eine zweite Ebene" gegeben habe.
Brandenburg sieht dies als eine Ablenkung von dem Fakt, dass die ursprünglich 53 Schauspieler gemeinsam in Aktion traten, weil sie eine andere Meinung hinsichtlich der Corona-Maßnahmen hatten. Man müsse nicht direkt "eine Verschwörung" unterstellen:
"Man muss doch dem inhaltlichen Gegner nicht gleich Gesinnungsunrecht unterstellen oder irgendeine sinistre [unheimliche – Anm. d. Red.] Motivation, die irgendwie böse ist."
Wer steckt hinter dem "Recherchenetzwerk Antischwurbler"?
Der Mediziner sieht als Grundproblem der medialen Berichterstattung, dass Kritiker der Corona-Maßnahmen – ungeachtet der Vielschichtigkeit ihrer Kritik – mit der Querdenken-Bewegung gleichgestellt werden. In seinem Fall wurde noch einiges mehr vom Tagesspiegel unterstellt. Insbesondere die Quellenlage findet Brandenburg sehr bedenklich. Er verweist auf das anonyme "Recherchenetzwerk Antischwurbler".
Die Verantwortlichen des Tagesspiegel rechtfertigten die Zusammenarbeit mit dem "Recherchenetzwerk Antischwurbler". Laut Sauerbrey handelt es sich dabei um "Szeneaussteiger". In dem Tagesspiegel-Artikel zur Gesprächsrunde steht jedoch erneut eine "Ergänzung der Redaktion", demnach haben sich Mitglieder dieses Netzwerks zu Wort gemeldet und empfinden den Begriff "Szeneaussteiger" "als nicht zutreffend". Die Tagesspiegel-Redaktion korrigiert:
"Es handelt sich um mehrere Personen, die im vergangenen Jahr zunächst selbst Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen besucht haben, dort nach eigener Aussage über die Zusammensetzung der Teilnehmer erschraken. Gemeinsam mit einer befreundeten Journalistin entschlossen sie sich, ihre Vernetzung in der Szene, etwa in einschlägigen Telegram-Kanälen, zu nutzen, um Organisationsstrukturen und extremistische Tendenzen in der Szene zu recherchieren und zu dokumentieren."
Für Brandenburg ist die Titulierung "Antischwurbler" schon ein Kommentar, mit dem von einer neutralen Berichterstattung abgewichen wird:
"Sie berichten mit anonymen Personen, die sich nicht trauen, sich öffentlich zu nennen, mit einem 'Recherchenetzwerk Antischwurbler' und stellen doch automatisch das Objekt ihrer Berichterstattung damit konkludent in dem Bereich der Schwurbler – was auch immer das ist."
Satirisch fügt Brandenburg hinzu, wenn er sich "'Netzwerk Gossenjournalismus' taufen würde, um dann über den Tagesspiegel zu berichten, dann steckt doch der Vorwurf und die Diffamierung schon im Wort". Aus der nachfolgenden Diskussion sah sich die stellvertretende Tagesspiegel-Chefredakteurin Sauerbrey genötigt, ihm recht zu geben:
"Ich glaube tatsächlich, ein Punkt ist, dass wir dazu neigen, zu schnell von der Berichterstattung in die Meinung überzugehen. Dem [Artikel über #allesdichtmachen – Anm. d. Red.] fehlte von Anfang an die Nüchternheit aus meiner Wahrnehmung."
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