Die Jugendämter in Deutschland schlagen Alarm angesichts der Langzeitfolgen der Corona-Krise für Kinder und Jugendliche. Sie warnen insbesondere vor einem rasanten Anstieg der Schulabbrüche und einer Verschlimmerung der Situation in den Familien. Lorenz Bahr, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, sagte gegenüber der Funke-Mediengruppe:
"Die Corona-Pandemie wirft die Kinder- und Jugendarbeit um mindestens fünf Jahre zurück. […] Mit Blick auf die beiden Abschlussjahrgänge droht sich, die Zahl der Schulabbrecher zu verdoppeln."
Anstelle von 104.000 erwarteten Schulabgängern ohne Bildungsabschluss pro Jahr rechnet der Jugendamtschef nun mit mindestens 210.000 Schulabbrechern – sowohl im Jahr 2020 als auch im laufenden Jahr. Diese Entwicklung werde sich durch viele Schichten ziehen, auch Kinder aus der Mittelschicht würden einen "früheren Karriereknick" erleben, so Bahr.
Lockdown, Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen haben aber noch weitere Folgen. Viele Jugendämter berichten, dass sie den Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen verloren haben. Das geht aus einer Befragung der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter zusammen mit dem Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ISM) hervor. An der Befragung haben 298 der 559 Jugendämter in Deutschland teilgenommen und insgesamt 1.750 Beschäftigte. 84 Prozent der befragten Jugendamtsmitarbeiter stellten negative Auswirkungen der Corona-Krise auf die Kinder und Jugendlichen fest. 88 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sich vor allem die Situation von Kindern mit Migrationshintergrund, von bildungsbenachteiligten Kindern sowie von Kindern in belasteten Familienverhältnissen weiter verschlechtern wird.
Laut Lorenz Bahr sind vor allem Kinder und Jugendliche "aus armutsgefährdeten Familien" digital "gar nicht erreichbar". Birgit Zeller, Leiterin des Landesjugendamtes Rheinland-Pfalz, bringt es auf den Punkt:
"Viele Schülerinnen und Schüler waren schlicht nicht mehr erreichbar."
Dies könne nach Angaben von Heinz Müller, dem Leiter des ISM, schwerwiegende Folgen haben – insbesondere bei Familien, die sich in prekären Lebenslagen befinden sowie Kindern, deren Eltern psychisch erkrankt sind oder unter Suchtproblemen leiden. Zu dieser Gruppe zählen laut Müller "rund vier Millionen Kinder und Jugendliche". Müller warnt vor den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen:
"80 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus armutsgefährdeten Haushalten drohen den Anschluss zu verlieren – schulisch, aber auch im Umgang mit sozialen Kontakten oder ehrenamtlichem Engagement in Vereinen."
Bislang sei die Zahl der bei den Jugendämtern eingegangenen Meldungen zur Kindeswohlgefährdung bundesweit konstant geblieben, sagte Müller.
"Wir rechnen aber damit, dass sie noch steigen wird. Denn die Frauenhäuser sind derzeit voll, auch Hilfetelefone werden stark nachgefragt. Diese Entwicklung wird früher oder später auch in der Kinder- und Jugendarbeit ankommen."
Dafür sind die Jugendämter jedoch nicht gut aufgestellt. Müller bemängelt zum Beispiel den niedrigen Grad der Digitalisierung. Man sei im Bereich der Verwaltungssoftware "in einer ganz frühen Phase der Digitalisierung stecken geblieben". Dabei seien digitale Angebote im Lockdown mehr denn je gefragt.
Um die Folgen der Corona-Politik aufzufangen, rechnen die Jugendämter mit einem Mehrbedarf von 5,6 Milliarden Euro pro Jahr – das sei "konservativ geschätzt", mahnt Lorenz Bahr an. Es müssten dringend die Hilfsangebote hochgefahren werden. Gleichzeitig brauche es aber auch mehr Präventionsarbeit und man müsse den Jugendlichen Aussichten auf die Zukunft bieten.
Die Jugendämter fordern daher von Bund, Ländern und Gemeinden die Schaffung eines Kinder-und Jugendhilfefonds für den Zeitraum von 2022 bis 2027. Mit dem Geld sollten neben dem Ausbau von Hilfsangeboten auch bestehende Angebote attraktiver gemacht werden, etwa die Vergütung des Freiwilligen Sozialen oder Ökologischen Jahres (FSJ / FÖJ). Bahr konkretisiert:
"Bisher werden solche Angebote fast ausschließlich von Abiturienten genutzt. Wir müssen aber gerade auch Jugendliche mit anderen Bildungsabschlüssen oder ohne Schulabschluss erreichen, um ihnen eine Perspektive aufzeigen zu können. Es darf nicht passieren, dass Jugendliche durch das Raster fallen und sich direkt in Hartz IV wiederfinden."
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