Bürgermeister des Erzgebirgskreises in Sachsen, der schon länger ein Pandemie-Hotspot und wiederholt Schauplatz von Protesten gegen die Corona-Einschränkungen ist, haben sich in einem offenen Brief an Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gewandt. Dies berichten der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) und regionale Medien in Sachsen. Die Stadtoberhäupter kritisieren in ihrem Schreiben die Corona-Politik der Landesregierung scharf, insbesondere, dass an bestimmten Inzidenzwerten festgehalten wird.
Demnach heißt es in dem Brief, der im Vorfeld einer für Mittwoch geplanten Videokonferenz veröffentlicht wurde:
"Wir haben im Erzgebirgskreis aktuell Kommunen, die eine Größe aufweisen, bei denen ein positiv getesteter Fall in sieben Tagen sofort zu einer Inzidenz von mehr als 100 führt."
Damit könne man den Bürgern die teilweise erheblichen Einschränkungen nicht erklären, heißt es weiter. Die Inzidenz einer Krankheit in einer Bevölkerung wird im einfachsten Fall ausgewiesen als die Zahl der Neuerkrankungen, die in einem Jahr pro 100.000 Menschen auftreten.
"Das komplette – undifferenzierte – Herunterfahren ganzer Branchen oder Lebensbereiche über Monate hinweg erweckt mit zunehmender Dauer eher den Eindruck einer Plan- und Hilflosigkeit", heißt es in dem 17 Seiten umfassenden Dokument, das auch im Internet abrufbar ist.
Ein Vergleich der Inzidenzwerte sei nicht möglich, da sich im Laufe des vergangenen Jahres die Teststrategie mehrfach geändert habe, argumentieren die Bürgermeister. Im Frühjahr 2020 seien nur Menschen mit Symptomen getestet worden, im Herbst auch Kontaktpersonen ohne Anzeichen einer Erkrankung. Bei den nun breit angelegten Tests müsse man die zusätzlich ermittelten Fälle in ein angemessenes Verhältnis setzen.
Corona-Schutzverordnungen zu komplex
Albrecht Spindler, parteiloser Bürgermeister der rund 5.800 Einwohner zählenden Gemeinde Jahnsdorf, sagte dem MDR:
"Die Regelungen der Corona-Schutzverordnung sind zu komplex. Dadurch verlieren wir zunehmend den Rückhalt in der Bevölkerung."
Es sei immer schwieriger, die Regelungen zu erklären, wenn man sie selbst nicht mehr ganz genau durchdringen könne.
Ingo Seifert von den Freien Wählern und Bürgermeister von Schneeberg mit rund 15.000 Bürgern sagte dem Sender: "Auf der einen Seite sagt man, das Testaufkommen muss erhöht werden." Dies bringe zwangsläufig mehr positive Testergebnisse. "Auf der anderen Seite hält man an diesen festen Zahlen 100, 50 und 35 fest. Das passt nicht mehr aufeinander." Damit bewege man sich auf einen Jo-Jo-Effekt zu, bei dem Schulen und Geschäfte zwischen Öffnung und Schließung pendeln würden.
"Das löst großen Unmut in der Bevölkerung aus."
Ähnlich äußerte sich Nico Dittmann, Bürgermeister in Thalheim, gegenüber Radioeins:
"Das Thema wird aus unserer Sicht immer komplizierter und die Bevölkerung hat dann auch große Probleme, das zu verstehen und die Regeln nachzuvollziehen."
Die acht unterzeichnenden Bürgermeister haben stellvertretend für alle Bürgermeister des Landkreises unterschrieben, erklärte Bürgermeister Seifert:
"Wir denken, es ist an der Zeit zu zeigen, wie bedenklich die Stimmung in der Bevölkerung ist."
Kretschmer: "Die Vorwürfe sind gigantisch"
Ministerpräsident Michael Kretschmer, der den Freistaat Sachsen seit Ende 2019 im Rahmen einer sogenannten Kenia-Koalition aus CDU, Grünen und SPD regiert, hat im Laufe der Pandemie in der Bevölkerung enorm an Zustimmung verloren. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag der Sächsischen Zeitung zeigt, dass aktuell nur noch 36,6 Prozent der Menschen im Freistaat mit seiner Arbeit zufrieden sind. Unzufrieden sind inzwischen 47,1 Prozent. Vor einem Jahr sah dies noch anders aus. Damals äußerten sich 46,4 Prozent der Befragten zufrieden und 28,9 Prozent unzufrieden.
Dies bleibt auch nicht ohne Folge für die Werte der Landes-CDU. Sie sackte nach einem Hoch Mitte Juni 2020 von 41,5 Prozent auf aktuell 31,2 Prozent ab. Besonders dramatisch war dabei der Absturz in den Wochen seit Anfang Februar.
Am Dienstagabend plädierte der sächsische Ministerpräsident dafür, wieder verstärkt auf Wissenschaftler zu hören. Der erste Lockerungsversuch von Bund und Ländern vor zwei Wochen ist seiner Ansicht nach gescheitert. Dieser Versuch sei ein Fehler gewesen und müsse abgebrochen werden, sagte er einem Bericht der Nachrichtenagentur epd zufolge bei einer Onlineveranstaltung zur psychischen Gesundheit in der Pandemie.
Politische Entscheidungen würden das Virus wenig beeindruckten. "Wir müssen möglichst schnell wieder auf einen wissenschaftlichen Weg kommen", sagte Kretschmer. Es brauche zudem Formen der Sicherheit durch mehr Tests. Erst dann könne weiter geöffnet werden.
Auf psychischer Ebene sehe er das Problem, dass die Bevölkerung angesichts der staatlichen Maßnahmen eine Ohnmacht empfinde. Was ihn aber auch beschäftige, sei, dass Deutschland nach der Krise stark ist, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. "Nach der Krise müssen wir das Erlebte aufarbeiten", sagte Kretschmer.
Die Pandemie sei auch für Politiker eine sehr herausfordernde Zeit. "Die Vorwürfe sind gigantisch, zum Teil drastisch in der Wortwahl", sagte der CDU-Politiker. Er sei froh, dass Entscheidungen im Team fallen und dass sich die Politik auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen könne, sagte Kretschmer in Bezug auf seine eigene psychische Belastung.
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