Harter Lockdown auch an Ostern? RKI-Experte hält Lockerungen für "irrational"

Laut RKI läuft die dritte Corona-Welle bereits. Die Sieben-Tage-Inzidenz zeige laut dem RKI-Epidemiologen Brockmann die Gefahr eines "exponentiellen Wachstums". Infektiologe Schrappe sieht hingegen eine politische Motivation in der Hochrechnung auf die Gesamtbevölkerung.

Nach Ansicht des Robert Koch-Instituts (RKI) läuft bereits die dritte Corona-Welle und es bestehe die Gefahr eines exponentiellen Wachstums der Corona-Zahlen. Vor diesem Hintergrund kritisierte der RKI-Epidemiologe Dirk Brockmann im ARD-Morgenmagazin Lockerungen als "irrational". Brockmann argumentiert, die Ausbreitung des Corona-Virus habe im Vergleich zur Vorwoche um 20 Prozent zugenommen:

"Das heißt, wir sind genau in der Flanke der dritten Welle. Da gibt es gar nichts zu diskutieren. Und in diese Flanke hinein wurde gelockert."

Laut RKI liegt der Sieben-Tage-Inzidenzwert im Deutschland derzeit bei 83,7. Die Schwankungen in Deutschland seien aber hoch: Während der Wert etwa in Greiz (Thüringen) bei 490,8 liege und im Vogtlandkreis (Sachsen) bei 307,1, betrage er in den Landkreisen Cochem-Zell und Kaiserslautern (beide Rheinland-Pfalz) 11,4 bzw. 14,2. Nach Angaben des RKI wurden am Dienstag 5.480 positive Corona-Befunde innerhalb der letzten 24 Stunden gemeldet – 1.228 Fälle mehr als am Dienstag vor einer Woche. Der Inzidenzwert habe noch am Montag bei 82,9 Punkten gelegen, am 16. Februar bei 59.

Für Brockmann sind das Anzeichen eines exponentiellen Wachstums. In so einer Situation den Lockdown zurückzufahren und Lockerungen durchzusetzen, hält er für "irrational": "Das befeuert nur das exponentielle Wachstum."

In die gleiche Richtung argumentiert auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Der wissenschaftliche Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, spricht sich für eine sofortige Rückkehr in den harten Lockdown aus:

"Von den Daten, die wir jetzt haben und sehen und mit dem Durchsetzen der britischen Mutante würden wir sehr stark dafür plädieren, jetzt sofort wieder in einen Lockdown zu gehen, um einfach eine starke dritte Welle zu verhindern."

Karagiannidis warnt, dass bald 5.000 bis 6.000 COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen liegen könnten. Derzeit seien es rund 2.800. Er setzt sich dafür ein, dass die Bundesländer die beschlossene Notbremse bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 durchsetzen.

Die Äußerungen über eine mögliche Rückkehr in den harten Lockdown vor Ostern wurde in den sozialen Medien scharf kritisiert.

Kritik an Sieben-Tage-Inzidenz – ein "Stochern im Nebel"

Der Sieben-Tage-Inzidenzwert als Hauptindikator für die Pandemielage wird von Experten zunehmend infrage gestellt. Am Freitag erklärte der Infektiologe und Gesundheitsökonom Matthias Schrappe im Interview mit der WELT, er halte es für einen "Skandal, welche politische Rolle der Inzidenzwert spielt. Andere Werte müssen hinzugezogen werden."

Eine generelle Zielformulierung anhand der Sieben-Tage-Inzidenz – sprich: Melderate – hält Schrappe für kritikwürdig. Für ihn werden die Gesamtmelderaten zunehmend "überflüssig mit der fortschreitenden Impfung der Alten und der Risikogruppen". Man müsse beachten, dass eine "Melderate von 50 heute eine völlig andere Bedeutung" habe "als im vergangenen Herbst" – heute betreffe "die Infektion vor allem die Jüngeren mit weitaus niedrigerem Risiko für schwere Krankheitsverläufe".

Schrappe kritisiert, dass das RKI "noch immer zu sehr im Nebel" herumstochere:

"Die täglich vom Robert Koch-Institut verkündeten Zahlen sind extrem von der Zahl der Getesteten abhängig, werden dann aber politisch motiviert trotzdem auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet und zur Rechtfertigung von Maßnahmen verwendet. Wir haben es mit einer Epidemie durch asymptomatische Übertragungen zu tun. Hier müssten stichpunktartig in ganz Deutschland Menschen regelmäßig untersucht werden, in den Städten und auf dem Land."

Der Infektiologe, der von 2007 bis 2011 stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit war, empfiehlt stattdessen Kohortenstudien. Mit diesen ließe sich herausfinden, "warum sich etwa auf dem Land so viele Menschen infizieren". Zudem müsste speziell "die Altersgruppen 70 plus" über eine Melderate erfasst werden. Ein Verzicht darauf verhindere, dass die Politik "sich einen klaren Blick" verschaffen könne.

"Mir kommt es in Deutschland immer so vor, als wollten wir die Pandemie mit dem Blick durchs Mikroskop bekämpfen. Und mit dem Computermodell. Nur nichts riskieren, indem man differenzierte Vorschläge umsetzt. Man sollte mehr Energie darauf verwenden, Infektionsherde zu identifizieren. Und sie bei lokalen Ausbrüchen herausrechnen, statt sie in die Inzidenzzahlen des ganzen Landkreises hineinzurechnen."

Notwendig wäre es, dass man Infektionscluster aufspüre, statt sie auf die Gesamtbevölkerung hochzurechnen. Als Beispiel nennt Schrappe "die Corona-Ausbrüche in Gefängnissen":

"Niemand redet darüber. Eine Vollzugsbeamtin sagte zu mir, Sie können sich nicht vorstellen, was da los ist. Es wäre die Aufgabe der Gesundheitsämter, solche Herde zu finden und dort präventiv einzugreifen. Dann müsste nicht die ganze Stadt dafür haftbar gemacht werden."

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