Berliner Oberstaatsanwalt: "Versagen des Rechtsstaats"

Ralph Knispel ist Oberstaatsanwalt in Berlin, und sein Buch "Rechtsstaat am Ende" hat es in sich. Eindrucksvoll zeigt er die Probleme des deutschen Polizei- und Justizapparats auf, der viel zu lange schon in enormer Schieflage verharrt.

Der wöchentliche "Tatort" sei "Fernsehwelt", die sonntägliche Illusion der funktionierenden Staatsmacht. Mit der Realität habe die Krimiserie gar nichts zu tun, so Ralph Knispel in seinem 230 Seiten umfassenden Buch "Rechtstaat am Ende. Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm".

Anders als die Fernsehkommissare und -anwälte schaffen ihre realen Kollegen nicht ansatzweise das, was auf dem Bildschirm suggeriert wird. In Wahrheit arbeiten Gerichte und Polizei schon lange nicht mehr gegen die Flut von Verbrechen an. 57 Prozent der fast 5 Millionen Verfahren, die deutsche Staatsanwaltschaften im Jahr 2019 abschließen konnten, endeten nicht mit einer Anklage, sondern – mit der Einstellung des Verfahrens. Und das, obwohl bei 28 Prozent sogar Beschuldigte ermittelt werden konnten.

"Systematisch kaputtgespart"

Den profanen Grund sieht Knispel in der Sparpolitik, welcher dieser Justizapparat zum Opfer gefallen ist.

"Ein Verfahren einzustellen, weil es nicht genügend Staatsanwältinnen oder -anwälte gibt, die eine Sache zur Anklage bringen, ist kein guter Grund. Sondern ein Offenbarungseid."

Allerdings ein Eingeständnis mit schwerwiegenden Folgen: Täter können auf Strafrabatte wegen langer Verfahrensdauer hoffen. Im Durchschnitt liegt der Straferlass bei vier Monaten. Teilweise werden Verdächtige nur deshalb aus der Untersuchungshaft entlassen, weil gegen sie nicht innerhalb der gesetzlichen Frist Anklage erhoben oder ein Urteil festgesetzt wurde.

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In den Jahren 2015 und 2016 wurden wegen solcher Fristversäumnisse 85 Schwerkriminelle wieder auf freien Fuß gesetzt, was keineswegs nur ein statistischer Ausreißer war. Denn in den folgenden Jahren stiegen diese Zahlen noch an. Am Berliner Sozialgericht stapeln sich derzeit 40.000 Fälle. Ein Jahr würde es dauern, um den Berg abzuarbeiten – aber täglich kommen 2.000 neue Fälle hinzu.

"Großdealer, Mörder und Vergewaltiger, die wegen einer Fristverletzung aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen – das ist Justizalltag in Deutschland."

Im Bus zum Tatort

Gegen technologisch hochgerüstete Banden müssen Ermittler mit veralteten Computern vorgehen. Kommissare nehmen die öffentlichen Verkehrsmittel, da kein Dienstfahrzeug bereitsteht. Kriminaltechnische Ergebnisse kommen erst nach Monaten. Auch hier zeigt der Rotstift seine Wirkung. DNA-Auswertungen kommen viel zu spät. International agierende Einbrecherbanden haben sich schon längst wieder aus dem Staub gemacht.

Und überhaupt erst die Wohnungseinbrüche: Die Aufklärungsquote ist verschwindend gering. In nur 15 Prozent der Fälle werden Täter ermittelt, in nur 2,6 Prozent der Fälle kommt es jemals zu einer Anklage. Für die Opfer dagegen sind die Folgen weitreichend. Knispel erzählt von einer Frau, die sich nach einem Einbruch monatelang nicht mehr traute, nachts ihre Toilette zu benutzen. Auch Knispel selbst war schon Opfer von Einbrüchen geworden. Die für 2.000 DM installierte Sicherheitsanlage konnte den Einbrecher wenig aufhalten.

Die Folge bleibt ein Gefühl der Ohnmacht, Unverständnis für den Mangel an innerer Sicherheit und letztlich ein massiver Vertrauensverlust in den Rechtsstaat. Knispel will aber nicht nur seinem Ärger Luft machen. Er will die Defizite klar benennen. "Denn nur, wenn wir die Missstände entschlossen angehen, wird der Rechtsstaat [...] den fortschreitenden Kontrollverlust beenden und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürgern zurückgewinnen können."

Ralph Knispel: "Rechtsstaat am Ende", erschienen bei Ullstein Buchverlage des schwedischen Medienunternehmens Bonnier.

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