Mitten in der Krise und im Homeoffice haben 12,35 Millionen deutsche Aktionäre Spaß am steigenden DAX. Das ist der höchste Stand seit 20 Jahren. Das Deutsche Aktieninstitut (DAI) bestätigt, dass sich vor allem Jüngere um Aktienfonds für das Alter kümmern. 2,7 Millionen mehr halten derzeit Aktien als im Vorjahr, die höchste Zahl seit seit dem Rekordjahr 2001 mit damals fast 12,9 Millionen Aktionären.
Das treibt die Gesellschaft weiter auseinander. Laut paritätischem Wohlfahrtsverband ("Armutsbericht 2020") stieg die Armutsgefährdungsquote in Deutschland im vergangenen Jahr auf 15,9 Prozent. Es handele sich um die "größte gemessene Armut seit der Wiedervereinigung." Besonders betroffen seien geringfügig Beschäftigte und junge Menschen. Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider sagt:
"Eine zunehmende Zahl von Erwerbslosen stößt auf ein soziales Sicherungssystem, das bereits vor Corona nicht vor Armut schützte und dessen Schwächen nun noch deutlicher zutage treten."
Die Unterschiede sind regionalbedingt: Im Süden rund um München liegen die Regionen mit den niedrigsten Armutsquoten. Die meiste Armut gemessen an der Einwohnerzahl gibt es in und um Bremen und Bremerhaven sowie im Ruhrgebiet mit dessen hohen Bevölkerungsdichte.
Christine Bortenlänger, Chefin des Aktieninstituts, weiß, dass viele der Menschen, die 2020 in Aktienfonds und Aktien-ETFs investiert haben, langfristig dabeibleiben wollten. Die Bundesbank bestätigt den Trend. Der Anteil an Privatanlegern auf dem Kapitalmarkt habe zuletzt einen rasanten Aufschwung erlebt.
Die Aktionäre werden immer jünger, besonders die unter 30-Jährigen. Fast 600.000 junge Erwachsene wagten sich aufs Parkett – eine Steigerung von fast 70 Prozent mehr als im Vorjahr. Begünstigt wird dieser Trend dadurch, dass bei vielen Anbietern das Investment in Aktien per Smartphone oder Mausklick funktioniert.
Nach Angaben des Fondsverband BVI wurden im vergangenen Jahr netto 20,9 Milliarden Euro allein in Aktienfonds und damit mehr als viermal so viel wie im Jahr zuvor (4,5 Milliarden Euro) investiert.
Union-Investment-Manager Alexander Schindler sagte: "Offenbar haben viele Deutsche die Corona-Krise genutzt, um erstmals nach längerer Zeit wieder oder stärker in die Wertpapieranlage einzusteigen." Strafzinsen, hohe Bank-Gebühren beflügelten den Trend. Viele Sparerinnen und Sparer hatten 2020 einfach mehr Zeit und mehr Geld. Urlaube platzten, Einkaufsbummel und Restaurantbesuche fielen zeitweise aus. Von 100 Euro wurden nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes im Schnitt gut 16 Euro auf die hohe Kante gelegt.
Wie lange dauert der Höhenflug der Aktienkultur? Die Stiftung Warentest rät in der Corona-Krise, einen kühlen Kopf zu bewahren. Viele professionelle Investoren hatten dagegen im März 2020 Aktien abgestoßen. Mitunter blieb ihnen gar keine andere Wahl, weil sie ihre Entscheidungen an Computerprogrammen ausrichten, die bei einem Crash Verkaufssignale geben würden. "Anleger, die breit gestreute ETF im Depot haben, können bei Kurseinbrüchen stets auf eine Erholung setzen, selbst wenn es mal ein paar Jahre dauern sollte. Der Aktienindex MSCI World hatte seinen Höchststand aus dem Februar 2020 zum Jahresende fast schon wieder erreicht," so der Branchen-Tester.
Mit 17,5 Prozent ist der Anteil der Aktionäre in Europas größter Volkswirtschaft im Vergleich zu anderen Industrieländern nach wie vor eher gering. In Deutschland nutzten viele Anleger den DAX-Kurssturz im März von knapp 13.800 Punkten auf 8.255 Zähler zum Einstieg oder zum Aufstocken ihrer Aktien. Aktuell boomt es wieder an den Aktienmärkten. Aber wie lange noch?
Stiftung Warentest rät: "Bei Mischfonds oder Vermögensverwaltungen, die auf Jahressicht Gewinne erzielten, sollten Anleger sehr genau hinschauen. Nur wenn die Produkte ähnlich gut abschneiden wie eine Indexmischung, die ungefähr ihrem Risiko entspricht, sind sie ihr Geld wert. Finanztest hat den Vergleichsmaßstab für unterschiedliche Depotmischungen berechnet. Damit können Anleger ihre Finanzprodukte vergleichen. Wer langfristig, breit gestreut und regelmäßig in Aktien oder Aktienfonds spare, könne "diese vorübergehenden Phasen gelassen aussitzen."
Rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche haben davon allerdings nichts. Sie wachsen laut einer Berechnung der Bertelsmann Stiftung in Armut auf – das sind 21,3 Prozent aller unter 18-Jährigen. Fast jedes siebte Kind (13,8 Prozent) erhält demnach die Grundsicherung.
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