Die Erhöhung der zugelassenen Entnahme von sechs statt nur fünf Impfdosen aus einer Ampulle des Corona-Impfstoffes der Hersteller BioNTech und Pfizer wurde von Politik und Medien als großes Ereignis gefeiert. Mittlerweile stellt sich heraus: Das war ein Trugschluss. Die Pharmakonzerne drosseln die Lieferungen um 20 Prozent. Zudem berichtete die Tagesschau am Dienstag, dass es in der Praxis oft nicht möglich sei, tatsächlich sechs Impfdosen aus einem BioNTech-Fläschchen zu entnehmen. Es mangele an fachlicher Geschicklichkeit und zumeist an den richtigen Spritzen.
Am 8. Januar erlaubte die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), aus einem Pfizer/BioNTech-Fläschchen sechs Impfdosen zu entnehmen. Das wurde als "wunderbare Nachricht" aufgenommen – so zum Beispiel von Dirk Heinrich, dem Leiter des zentralen Impfzentrums in Hamburg: "Wir können 20 Prozent mehr Menschen impfen". Das wurde seitens des Bundesgesundheitsministeriums den Gesundheitsministern der Länder versprochen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte in einer Regierungserklärung vom 13. Januar:
"Kurzfristig hilft jetzt auch die mögliche Verimpfung von sechs statt fünf Dosen aus einer Ampulle von BioNTech/Pfizer. Das kann die Zahl der zur Verfügung stehenden Impfdosen um bis zu 20 Prozent erhöhen."
Tatsächlich verkehrt sich das Verhältnis ins Umgekehrte: Statt 20 Prozent mehr werden nun nach Angaben der Tagesschau etwa 17 Prozent weniger Menschen mit einer BioNTech/Pfizer-Ampulle geimpft. Die Tagesschau spricht von einem "teuren Eigentor".
Zum einen reduzierten die Pharmaunternehmen ihre Liefermengen nach der EMA-Zulassung. Laut der Verträge, die mit der EU-Kommission für die 27 EU-Staaten ausgehandelt worden waren, beruhen die Bestellungen "immer auf einer Gesamtzahl von Dosen und nicht von Ampullen". Entsprechend verringerten die Konzerne ihre Lieferung um 20 Prozent.
Bundesgesundheitsminister Spahn akzeptiert das Vorgehen von BioNTech und Pfizer. Laut der Tagesschau nennt er deren Handeln "absehbar und erwartbar". Es sei klar gewesen, dass auf den Fläschchen "irgendwann auch der Aufdruck erfolgt: sechs Dosen drin, und sechs Dosen können entnommen werden". In Frankreich hingegen wird das anders betrachtet. Die Regierung in Paris mahnt, unabhängig von der Zahl der Dosen die bestellte Menge an Ampullen zu liefern. EU-Staatssekretär Clément Beaune macht deutlich:
"Die Lieferungen erfolgen in Fläschchen. Das Thema der Zahl an Dosen pro Fläschchen ändert für das Industrieunternehmen nichts."
Die sechste Impfdosis lässt sich häufig gar nicht entnehmen
Darüber hinaus lässt sich die sechste Dosis in vielen Fällen nicht entnehmen. Aus den deutschen Impfzentren häufen sich die Klagen, dass Ärzte oft nur fünf Dosen aus einer Ampulle erhalten. Thüringens Gesundheitsministerium spricht sogar von 50 Prozent der Fälle. Einer Tagesschau-Anfrage, wie oft in Deutschland keine sechste Portion entnommen werden könne, wich das Bundesgesundheitsministerium (BMG) aus: "Dazu liegen dem BMG keine Daten vor."
Auch aus der Schweiz kommen entsprechende Meldungen. Die Gesundheitsbehörden der Kantone klagen, dass sich die sechste Impfdosis vielfach nicht entnehmen lasse. Die Konsequenz: Es fehlt ein erheblicher Teil der eingeplanten Menge. Impftermine müssen verschoben werden.
Der Hintergrund ist, dass BioNTech ursprünglich eine andere Spritzennadel empfohlen habe und nun aber ein Besteck empfehle, mit dem die sechste Dosis wirklich gesichert werden könne. Eine Sprecherin des niedersächsischen Gesundheitsministeriums nannte laut der Tagesschau drei Gründe dafür, dass weniger als sechs Dosen entnommen werden können:
"Die variierende Abfüllmenge des Herstellers, das Impfbesteck, aber auch die Technik der Entnahme des Impfstoffs".
Die Füllmenge der Fläschchen ist keineswegs einheitlich. Von Beginn an wurden die BioNTech-Ampullen "aus technischen Gründen" leicht überfüllt, damit die vom Hersteller garantierte Menge von fünf Impfdosen sicher mit dem Impfbesteck entnommen werden könne. Die übrigbleibende Restmenge könnte somit vernachlässigt werden. Mit der Umstellung auf sechs Dosen wurde die Befüllung der Ampullen nicht verändert. Damit ist die Restmenge aber entscheidend.
Die Tagesschau schreibt: "Angesichts der winzigen Menge von 0,3 Milliliter pro Impfung spielen Material und Geschicklichkeit eine große Rolle – eben weil jetzt jeder Tropfen genutzt werden muss, um sechs Dosen entnehmen zu können." Das Bundesgesundheitsministerium erklärte, es obliege dem Arzt, eine Unterdosierung auszuschließen und sicherzustellen, dass das verabreichte Impfstoffvolumen tatsächlich 0,3 Milliliter betrage.
Eine entscheidende Rolle kommt dem richtigen medizinischen Werkzeug zu. BioNTech erklärte auf Anfrage der Tagesschau, dass "Spritzen und/oder Nadeln mit geringem Totvolumen verwendet werden" müssten. Als Totvolumen wird die Menge an Impfstoff bezeichnet, die am Ende im Kolben der Spritze bleibt – also nicht verimpft wird.
"Wenn Standardspritzen und -nadeln verwendet werden, reicht das Volumen möglicherweise nicht aus, um eine sechste Dosis aus einer einzelnen Durchstechflasche zu entnehmen."
BioNTech selbst bietet den deutschen Bundesländern und den EU-Staaten solche Spritzen zum Verkauf an. Das Bundesgesundheitsministerium macht keine Angaben, wie groß der Mangel an Spezialspritzen ist. Auch eine Anfrage der Tagesschau zu den zusätzlichen Mehrkosten für diese Spritzen bleibt bislang unbeantwortet. BioNTech antwortete lediglich:
"Nähere Angaben zum Preis seitens BioNTech liegen nicht vor."
Spahn geht es indessen nicht länger um den Preis. Auf der Bundespressekonferenz vom 22. Januar erklärte er:
"Mir geht es weniger um die Rechnung, mir geht es mehr darum: Wie viel [Impfstoff – Anm. d. Red.] ist jetzt verfügbar? Das ist doch unser Hauptproblem."
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