Am 25. Dezember erreichte die Zahl der Corona-Infizierten und nicht genesenen Personen mit 377.300 ihren Höhepunkt, knapp vier Wochen später reduzierte sich diese Zahl um fast 90.000 und lag am 19. Januar bei 288.400. Immer mehr Menschen genesen, und es kommen immer weniger neue COVID-19-Fälle hinzu. Die Zahl der positiv Getesteten aus den Dezember-Durchschnittswerten mit 26.000 bis 27.000 Fällen pro Tag ist in den letzten drei Tagen auf die Hälfte zurückgefallen.
Dieser Trend lässt sich durch ein weiteres Indiz bestätigen: die Anzahl der gemeldeten intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle. So gab es laut der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) am 3. Januar 5.745 schwere Fälle, die auf Intensivbetten behandelt werden mussten. Das war der bisherige Höchstwert. Auch an diesen Spitzentagen stellten die COVID-19-Patienten maximal 2,7 Prozent aller Krankenhauspatienten dar.
Seit dem 3. Januar geht die Kurve steil nach unten. Am Dienstag waren es bereits 4.930 und damit 815 Patienten weniger. Insgesamt waren an diesem Tag ca. 80 Prozent der Intensivbetten belegt, zusammen mit der im August bereitgestellten Notfallreserve blieben noch knapp 14.000 Intensivbetten frei.
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Dieser deutliche Rückgang der gemeldeten Neuinfektionen zusammen mit dem Trend zur Entlastung der Krankenhäuser spiegelt sich allerdings nicht in den vom Robert Koch-Institut (RKI) gemeldeten Todesfällen wider. Ihre Höchstwerte mit über 1.000 Toten am Tag wies die RKI-Sterbestatistik ausgerechnet in der letzten Woche auf, wobei die Zahl der aktuell Infizierten im Vergleich zum 25. Dezember am 13. Januar bereits auf 314.300 zurückgegangen ist.
Laut dem unabhängigen Gesundheitsforschungsinstituts IGES in Berlin liegt dies daran, dass die täglich veröffentlichten COVID-19-Sterbezahlen im Durchschnitt über drei Wochen alt sind. Am 15. Januar veröffentlichte der Leiter des Instituts Bertram Häussler in der Ärztezeitung den Artikel "Corona im Blindflug", in dem er die Ergebnisse der IGES-Studie zur Corona-Sterbestatistik vorstellte.
In einem Interview mit der Welt gab Häussler an, dass sich von den am 15. Januar vom RKI gemeldeten 1.113 neuen Todesfällen nur 20 tatsächlich am Vortag, dem 14. Januar, ereignet hätten. Der Meldeverzug beträgt im Schnitt mehr als drei Wochen:
"Jeder zweite Todesfall hat sich vor dem 27. Dezember ereignet, im Durchschnitt 3,2 Wochen früher. In diversen Zeitungen ist aber zu lesen, diese Menschen seien in den letzten 24 Stunden verstorben."
"Das liegt auch an den Ärzten im Krankenhaus, die nach einem Todesfall keinen Meldebogen des RKI gemäß Infektionsschutzgesetz ausfüllen, obwohl sie dazu eigentlich gesetzlich verpflichtet sind", so Häussler weiter. Die Zuordnung der Verstorbenen nach dem Infektionsschutzgesetz zu den COVID-19-Toten sei aufwendig und erfordere Zeit, die das Gesundheitsamt nicht habe.
Allerdings ist es nicht so, dass das RKI den Meldeverzug verschweigt. Die Hinweise darauf werden jedoch allgemein gehalten. "Die auf der ersten Seite genannten Kennzahlen weisen die täglich neu berichteten Todesfälle nach Eingangsdatum am RKI aus. Darunter können auch Fälle mit einem mehrere Tage zurückliegenden Sterbedatum sein", schreibt das Institut in seinem letzten Bericht und fügt eine Abbildung hinzu, die die gemeldeten COVID-19-Todesfälle nach diesem Sterbedatum über die Kalenderwochen akkumuliert dargestellt. Laut der Abbildung lagen die Höchstwerte in der 52. Kalenderwoche, also im Zeitraum zwischen dem 21. und 27. Dezember. Diese Zahlen decken sich ungefähr mit der Belegung der Intensivbetten, die vom 21. Dezember an von 5.157 auf ihren bisherigen Höchststand von 5.745 am 3. Januar kletterte.
Doch viele Politiker argumentieren dennoch mit den angeblich "aktuellen" Sterbezahlen. "Für Politiker wie etwa Markus Söder (CSU) ist der Verweis auf hohe Todeszahlen die stärkste Begründung für harte Maßnahmen. Das macht den Menschen Angst", so Häussler.
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"Alle 17 Minuten stirbt in Bayern ein Mensch", sagte Söder am 15. Dezember, als er wiederholt ein konsequentes Runterfahren des öffentlichen Lebens forderte. "126 Tote binnen 24 Stunden in Bayern", schrieb die Welt irreführend hinzu. Auch die FAZ berichtete am 14. Januar: "Abermals neuer Höchststand an Corona-Todesfällen. Binnen 24 Stunden wurden 1.244 weitere Todesfälle gezählt, wie das Robert Koch-Institut unter Berufung auf die Gesundheitsämter mitteilte".
Diese Zahlen würden vielfach als Beleg dafür gewertet, dass die bisherigen Lockdowns zu wenig gebracht haben, so Häussler. Die aktuelle Zahl der Verstorbenen sage aber lediglich etwas über die Situation aus, die wir zu Beginn der Feiertage im Dezember hatten. Der Experte schlussfolgert:
"Diese Zahlen als Entscheidungsgrundlage zu nehmen, ist unhaltbar. (...) Uns droht ein Mega-Lockdown auf Basis unbrauchbarer Zahlen. Außerdem ist bereits erkennbar, dass der bestehende Lockdown wirkt. Die Zahl der Intensivpatienten sinkt laufend seit dem 4. Januar. Dies ist auf den Rückgang der Neuinfektionen seit dem 26. Dezember zurückzuführen, der wiederum eine Folge des dritten Lockdowns ist, der seit dem 15. Dezember gilt."
Das sagte der IGES-Leiter kurz vor der am Dienstag von Bund und Ländern beschlossenen Verschärfung der Anti-Corona-Maßnahmen. Diese würden mittlerweile weniger mit der drohenden Überlastung der Krankenhäuser oder dramatischen Infektionszahlen begründet, sondern vielmehr mit der Angst vor dem neuen Mutations-Virus aus Großbritannien, wie SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach in einer Online-Konferenz sagte. Lauterbach beteiligt sich an Berater-Gesprächen im engen Kreis und hat großen Einfluss auf die Corona-Politik der Bundesregierung. Er wies außerdem auf den ständigen Austausch mit den "britischen Experten" bezüglich der Situation mit der im Dezember in Großbritannien entdeckten Coronavirus-Mutation hin.
Bundeskanzlerin Angela Merkel machte am Dienstag während der Pressekonferenz klar, dass es bei den neuen Maßnahmen um Vorsorge im Zusammenhang mit dem mutierten Virus gehe. Sie sagte:
"Wenn die Infektionszahlen gering sind, hat auch das mutierte Virus wenig Chancen, sich durchzusetzen."
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Der Analytiker und Wirtschaftsexperte Carl Christian Jancke warnte in einem ausführlichen Statistik-Artikel vor zu strikter Orientierung an die Anzahl der Neuninfektionen und vor Schnellschlüssen bei Ländervergleichen. Er wies darauf hin, dass es derzeit in Großbritannien 1,72 Millionen offene Fälle gebe, was 2,54 Prozent der Bevölkerung ausmacht. In Deutschland seien es 335.965 (0,358 Prozent der Bevölkerung). "Aber im Vereinigten Königreich gab es am 15.01.2021 1.280 Menschen, die an oder mit Corona gestorben sind, das sind 0,002 Prozent der Bevölkerung. In Deutschland waren es 1.045 Menschen, also 0,001 Prozent."
Der Vergleich mit Irland macht laut Jancke diese Diskrepanz noch deutlicher. Die mutierte Coronavirus-Variante sei deshalb ein Phantom. Er schlussfolgert:
"Die britische Variante hat also nicht zu höheren Zahlen bei den schweren Fällen oder bei den Todeszahlen geführt, obwohl das britische Gesundheitssystem dem deutschen mit Sicherheit unterlegen ist. In Deutschland sterben die Menschen in den Altenheimen dagegen wie die Fliegen!"
In seinem Artikel weist Jancke darauf hin, dass bei den an und mit dem Coronavirus Verstorbenen 75 Prozent nicht auf Intensivstation sterben. Das spreche dafür, dass sie in den Alten- und Pflegeeinrichtungen sterben, in denen sie vorher betreut wurden. "Und eingedenk des hohen Alters stimmt vielleicht, dass sie auch ohne Corona am Ende ihres Lebens standen."
Gesundheitsexperte Häussler hält die Mutation des Virus für eine berechtigte Bedrohung, schlägt aber ein gezielteres Vorgehen vor, weil das herkömmliche Virus bereits eingedämmt sei. "Wir sollten dringend bei lokalen Ausbrüchen hohe Sequenzierungen vornehmen, um herauszufinden, ob die dortigen hohen Infektionszahlen auf die Mutation zurückzuführen sind – oder auf das "klassische Virus", das wir im Moment weitgehend im Griff haben." Er schlägt vor:
"Viel mehr sequenzieren und die Sterbezahlen pünktlich melden, anstatt auf Basis schwacher Daten den Mega-Lockdown auszurufen."
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