"Einzige Katastrophe": Kritik an Impfstrategie der Bundesregierung – Spahn weist Vorwürfe zurück

Der schleppende Verlauf der Impfkampagne sorgt für wachsende Kritik am Impfmanagement der Bundesregierung – auch aus den Reihen des Koalitionspartners SPD. Gesundheitsminister Spahn wirft den Sozialdemokraten nun vor, wahltaktisch zu agieren, und pocht auf ein geschlossenes Vorgehen der Regierung.

Angesichts der nur langsam anlaufenden Impfungen in Deutschland wächst die Kritik an der Impfstrategie der Bundesregierung. Nicht nur aus den Reihen der Opposition werden Vorwürfe laut. Auch die SPD übt Kritik an ihrem Koalitionspartner.

Am Montag hatte deren Spitzenkandidat Olaf Scholz im Namen der SPD-regierten Länder einen vierseitigen Katalog mit kritischen Fragen zum Thema an Gesundheitsminister Jens Spahn übergeben. Eine der 24 Fragen lautet etwa: "Warum hat die Europäische Kommission insgesamt so wenige Dosen vorbestellt und nicht auch größere Mengen an Optionen gesichert?"

Die Fragen seien in ihrem Tonfall ein Frontalangriff auf die Kanzlerin und ihrem Gesundheitsminister, schrieb die Bild, die erstmals über den Fragekatalog berichtet hatte. Das Blatt zitiert in diesem Zusammenhang einen "führenden Unionspolitiker": "Dieser Fragenkatalog ist wie ein Untersuchungsausschuss!"

Einen solchen fordert bereits der SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post, der von einem "puren Skandal" spricht. "Angesichts der Verlosungen des knappen Impfstoffes in Altenheimen wird mit Menschenleben umgegangen wie in der Lotterie. Die Verantwortlichen sollen mal den Wortlaut ihres Amtseides nachlesen", sagte Post gegenüber dem Focus.

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil hatte zuvor am Montag im ARD-Morgenmagazin eine "nationale Kraftanstrengung" unter der Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert. Deutschland stehe im Vergleich zu anderen Ländern bei der Impfstoffmenge schlechter da, sagte Klingbeil. "Wir sehen in diesen Tagen, dass es chaotische Zustände gibt", so der Generalsekretär.

Nur ein Wahlkampfmanöver? – Kritik am Koalitionsstreit 

Heftige Kritik kommt auch aus den Reihen der Opposition. Die Beschaffung des Impfstoffes sei eine "einzige Katastrophe", erklärte die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Christine Aschenberg-Dugnus. FDP-Generalsekretär Volker Wissing sagte dazu: "Das Hauptproblem, was wir gegenwärtig haben, ist, dass offensichtlich ja nicht in ausreichender Menge Impfstoff bestellt worden ist."

Gleichzeitig hagelt es Kritik von den Freidemokraten am nun ausgebrochenen Koalitionsstreit. "Auf den Intensivstationen kämpfen die Ärzte um Menschenleben. Am Kabinettstisch kämpfen Union und SPD miteinander um die beste Presse", twitterte ihr Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann. "Das macht nicht nur mich fassungslos!"

Auch Grünen-Chef Robert Habeck warf Union und SPD vor, das Vertrauen der Bevölkerung in die Corona-Impfung zu beschädigen. "Gegenseitige Schuldzuweisungen, nachträgliches Besserwissen und Wahlkampfvorspiele sind nicht das, was wir brauchen", so Habeck am Dienstag gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. "Die Impfungen sind der Weg aus der Pandemie, und das Vertrauen in die Impfung ist das nötige Kapital. Dieses Vertrauen wird gerade durch die regierungstragenden Parteien verspielt." Stattdessen müsse die volle Kraft und Konzentration darauf gehen, dass die Probleme behoben werden, so der Grünen-Politiker. 

Jens Spahn warf der SPD im ARD-Morgenmagazin indirekt vor, bereits wahltaktisch zu agieren. "In dieser echt schweren Phase der Pandemie, denke ich, erwarten die Bürgerinnen und Bürger zu Recht Geschlossenheit und Entschlossenheit ihrer Regierung."

Zugleich wies der Gesundheitsminister die Vorwürfe zurück. "Wir haben ausreichend Impfstoff für Deutschland und die EU bestellt", sagte Spahn der Rheinischen Post. Das Problem sei nicht die bestellte Menge. "Das Problem ist die geringe Produktionskapazität zu Beginn – bei weltweit extrem hoher Nachfrage", so der Minister.

Regierungssprecher Steffen Seibert verteidigte am Montag die Entscheidung für eine Beschaffung des Corona-Impfstoffs durch die EU. Die Bundesregierung stehe hinter dieser "Grundsatzentscheidung". "Wir sind überzeugt, dass das der richtige Weg war und ist", erklärte Seibert. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums erklärte ebenfalls: "Es gibt genug Impfstoff für Deutschland." 

Karl Lauterbach: Trump hat es besser gemacht

Auch der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sieht kein Fehlverhalten im Vorgehen des Bundes und der EU bei der Bestellung der Impfstoffe. "Niemand wusste, welcher Impfstoff zuerst über die Ziellinie der Zulassung gehen würde", sagte er. Alle Vorwürfe jetzt seien "der billige Versuch, politischen Honig aus dem Impfstoffmangel zu saugen".

Dieser Argumentation kann Karl Lauterbach nicht folgen. In der ARD-Sendung Hart aber Fair verwies der SPD-Gesundheitsexperte am Montag beispielhaft auf die USA. Dort habe man vor demselben Problem gestanden wie die EU, also nicht zu wissen, ob und wann welcher Impfstoff-Kandidat eine Zulassung erhält.

Doch US-Präsident Donald Trump ging laut Lauterbach gemäß einer "Bauernregel" vor. Er habe von jedem einzelnen Kandidaten eine ausreichende Menge an Dosen zur Impfung der Bevölkerung vorbestellt. Und selbst wenn nur ein einziger Kandidat das Rennen macht, "dann haben wir noch genug Impfstoff", führte Lauterbach aus.

Die in der Sendung zitierte Neurologin Frauke Zipp von der Leopoldina-Akademie hatte dazu in der Welt eine Rechnung aufgemacht:

"Wenn man bei den damals schon Erfolg versprechenden Unternehmen wie Biontech, Curevac, Moderna, Astra Zeneca und einem weiteren schon im Sommer für jeweils 60 Prozent der Bevölkerung – für Deutschland also etwa jeweils 100 Millionen Dosen zu je rund 20 Euro – bestellt hätte, dann wären das für Deutschland gerechnet Kosten von rund zehn Milliarden Euro gewesen."

Im SWR 1-Radio hatte Zipp am Sonntag ihre Kritik am Impfmanagement der Bundesregierung bekräftigt: "Wenn es um Leben und Tod geht und es gibt mehrere Optionen zur Rettung und man weiß noch nicht, welche funktioniert, dann verfolgt man doch alle wenn man kann und nicht alle ein bisschen. War uns der Einsatz von zehn Milliarden Euro, die jetzt zum Ende der Pandemie in wenigen Wochen geführt hätten, etwa zu groß? Die Chance nicht zu ergreifen, kann ich nicht nachvollziehen."

Bislang wurden in Deutschland 1,3 Millionen Dosen des Impfstoffes der Mainzer Firma Biontech an die Bundesländer geliefert. Damit werden zunächst Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, Menschen über 80 Jahre sowie Pflegekräfte und besonders gefährdetes Krankenhauspersonal versorgt. Bis einschließlich 1. Februar sollen weitere 2,68 Millionen Impfdosen an die Länder verteilt werden.

Wie Jens Spahn am Montag mitteilte, soll es nicht erst im Sommer, sondern bereits im zweiten Quartal für alle Bürger ein Impfangebot geben.

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(rt/dpa)