Um nach einer wochenlangen Auszeit gleich in die Vollen zu gehen, griff Drosten für einen Gastbeitrag in der Zeit zur Feder. Zunächst findet der Berater der Bundesregierung in Sachen COVID-19 lobende Worte für die bislang eingeleiteten Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus in Deutschland – die ja immerhin auch auf seine eigenen Vorschläge hin eingeführt wurden.
"Deutschland" habe "schnell und gut reagiert".
In kaum einer anderen großen Industrienation sind so wenige Menschen an der Krankheit gestorben", so Drosten weiter.
Dies liege darin begründet, dass früh getestet worden sei, "und zwischen Gesellschaft, Politik und den Infektionswissenschaften größeres Vertrauen herrschte als anderswo".
Jetzt aber laufen wir Gefahr, unseren Erfolg zu verspielen", ist sich der während der bisherigen Corona-Krise omnipräsente Virologe sicher.
Man habe sehr viel Neues über das Virus gelernt, sei jedoch seiner Ansicht nach zu "zögerlich", was die Umsetzung in gesellschaftliche Maßnahmen betreffe. Jetzt gelte es, die nötigen "Konsequenzen" unter anderem aus der Erkenntnis zu ziehen, "dass sich das Virus vor allem über die Luft überträgt – also nicht nur über die klassische Tröpfcheninfektion, sondern auch über Aerosole".
Wann werden wir konsequent unsere Maske tragen, und zwar auch auf der Nase, nicht nur darunter", fragt sich der Institutsdirektor an der Charité in Berlin.
Auch über den Einsatz eines möglichen Impfstoffs gelte es jetzt nachzudenken:
Selbst wenn sie keinen vollständigen Schutz böten, würden sie die Verbreitung des Virus deutlich verlangsamen und die Krankheit weniger schwer verlaufen lassen. Das sollten wir nicht zerreden.
Bis der Impfstoff zur Verfügung stehe, müsse der "Handlungsspielraum" genau ausgelotet werden, denn "ein unsauber abgesteckter Durchseuchungskurs könnte unsere bisherigen Erfolge zunichtemachen, die medizinischen wie die ökonomischen".
Klarheit müsse bestehen zwischen erster und zweiter Welle. So sei in ersterem Fall das Virus "durch Skifahrer und andere Reisende" von außen eingeschleppt worden. Doch auf der erfolgreichen Eindämmung dürfe man sich nun "nicht ausruhen", denn es gelte zu bedenken, "dass die zweite Welle eine ganz andere Dynamik haben wird".
Dabei bestehe die große Gefahr vor allem darin, dass sich das Virus während der laut Drosten bevorstehenden zweiten Welle "aus der Bevölkerung heraus verbreiten" werde.
Denn in der Zwischenzeit hat es sich immer gleichmäßiger verteilt, über die sozialen Schichten und die Alterskohorten hinweg. Und nach der Urlaubssaison werden wir beobachten, dass sich die Neuansteckungen auch in geografischer Hinsicht gleichmäßiger verteilen werden als bisher", prophezeit Drosten.
Doch der Virologe weiß Rat, um die Bevölkerung vor dem Schlimmsten zu bewahren. So sei die Verbreitung des Virus "bei genauem Hinsehen nicht homogen" und außerdem sei eine "überraschend ungleiche Verteilung der Infektionshäufigkeit pro Patient" auszumachen, will Drosten neu erfahren haben.
So käme es nicht bei jedem Patienten zu einer Mehrfachübertragung, also einem "Übertragungscluster".
Während bei Einzelübertragungen die Kette mitunter abreißt, können aus einem Cluster mehrere neue Ketten starten. Das bedeutet exponentielles Wachstum", so Drosten.
Daher gehe es jetzt darum, derlei Clusterbildungen aufzuhalten. Das sei wichtiger als eine breit angelegte Testung der Bevölkerung für das "Auffinden von Einzelfällen". Dadurch könne auch eine drohende Überlastung der Gesundheitsämter vermieden werden.
Die vielen Tests, die die Politik derzeit vorbereitet, werden bald öfter positiv ausfallen und die Gesundheitsämter dann überfordern – schließlich kann man das Virus ja nicht wegtesten, man muss auf positive Tests auch reagieren.
Der Fokus auf die sogenannten "Quellcluster" inspirierte Drosten womöglich zur Idee eines "Kontakt-Tagebuchs", mit der er nun die Maßnahmendebatte bereichert. "Jeder Bürger sollte in diesem Winter ein Kontakt-Tagebuch führen", fordert der Virologe.
Durch die Fokussierung auf die Infektionsquelle wird der neu diagnostizierte Patient nämlich zum Anzeiger eines unerkannten Quellclusters, das in der Zwischenzeit gewachsen ist. Die Mitglieder eines Quellclusters müssen sofort in Heimisolierung. Viele davon könnten hochinfektiös sein, ohne es zu wissen. Für Tests fehlt die Zeit. Politik, Arbeitgeber und Bürger müssen dies erklärt bekommen", ist sich Drosten sicher.
Ein großer Anhänger der viel beworbenen Corona-Warn-App scheint der Virologe also nicht zu sein. Wenn man seine Strategie nun "klug" anwende, könne die Bevölkerung einem flächendeckenden Lockdown angesichts der zweiten Welle noch entgehen, die womöglich "zu Widerständen" führen würde.
Eine Isolierung der Clustermitglieder für fünf Tage dürfte nach neuesten Erkenntnissen des medienaffinen Virologen der Berliner Charité nämlich ausreichen, "dabei darf das Wochenende mitgezählt werden", ergänzt Drosten. Für die Mischung aus Quarantäne und Isolierung hat der Virologe gleich einen neuen Begriff in die Diskussion eingeführt: die "Abklingzeit". Diese solle ausreichen, um die Viruslast auf ein nicht ansteckendes Maß zu senken.
Würden wir uns zutrauen, aus den inzwischen vorliegenden wissenschaftlichen Daten eine Toleranzschwelle der Viruslast abzuleiten, könnten Amtsärzte diejenigen sofort aus der Abklingzeit entlassen, deren Viruslast bereits unter die Schwelle gesunken ist. Es würden wohl die allermeisten sein", so Drosten weiter.
Ein gewisses "Restrisiko" werde in Folge bestehen bleiben, denn: "Die Erfahrung aus anderen Ländern lehrt uns schon jetzt, dass eine vollkommene Unterbrechung der Einzelübertragungen unmöglich ist." Den Gesundheitsämtern müsse es also "in schweren Zeiten" erlaubt werden, "über das Restrisiko hinwegzusehen".
Mit Stand Donnerstag meldete das Robert Koch-Institut (RKI) 213.067 testpostive COVID-19-Fälle. Als im Zusammenhang mit der Corona-Krise Verstorbene wurden 9.175 Menschen registriert. Laut RKI sei der "Anteil an Kreisen, die über einen Zeitraum von sieben Tagen keine COVID-19-Fälle übermittelt haben, deutlich zurückgegangen". Parallel dazu sei die COVID-19-Inzidenz in vielen Bundesländern angestiegen.
Dieser Trend ist beunruhigend", heißt es dazu im RKI-Lagebericht.
Die Aussage deckt sich mit den täglichen Corona-Wasserstandsmeldungen in Funk und Fernsehen. Wenig erfährt man hingegen etwa über die Anzahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Patienten. Deren Zahl liegt bundesweit bei 236.
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