Bis Ende November, also über eineinhalb Jahre nach den ersten Schulschließungen, will das Bundesverfassungsgericht nach eigenen Angaben über zwei Verfassungsbeschwerden entscheiden, die die Schließung von Schulen als "Maßnahmen" gegen Corona als unverhältnismäßigen Eingriff kritisieren. Dies berichtet die Tagesschau.
Bildungschancen, soziale Teilhabe, das sorgsam getaktete Familienleben, alles geriet mit der landesweiten Schließung von Schulen aus den Fugen. Bis heute Leiden Kinder unter der Coronakrise mit am meisten: Essstörungen, Schlafstörungen, psychische Probleme und soziale Auffälligkeiten werden die Gesellschaft vermutlich Jahrzehnte belasten. Dazu kommen innerfamiliäre Gewaltausbrüche während der Lockdowns.
Hierfür hat das Verfassungsgericht im Vorfeld einen Fragebogen an 31 medizinische Fachgesellschaften und Institutionen geschickt, um sich über mögliche Schäden durch Schulschließungen zu informieren. Die Juristen erkundigten sich nach dem "Wirkungszusammenhang" zwischen Inzidenzwerten und dem Infektionsgeschehen an den Schulen, sehen aber in erster Linie die "Kollateralschäden" durch Homeschooling, also gemessen an der Bedeutung des Präsenzunterrichts, als folgenreich für die "Entwicklung der Persönlichkeit" und Nachteile für die spätere Teilhabe "am gesellschaftlichen und beruflichen Leben".
Die Antworten der Mediziner sind äußerst kritisch. Zu den "sachkundigen Dritten", die die Fragen des Gerichts beantwortet haben, zählen unter anderem das Robert Koch-Institut (RKI), das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité. Dazu kommen die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Kinderschutzbund.
Fast alle sehen die Schulschließungen kritisch, weil man nach eineinhalb Jahren Pandemie doch überdeutlich erkennt, dass nicht nur das Virus, sondern auch dessen Eindämmung körperliche und seelische Schäden verursachen kann.
RKI-Präsident Lothar Wieler, der selbst für Schulschließungen warb und Kinder als große Verbreiter des Virus bezeichnete, gibt wenig überraschend an, dass die Schulschließungen "zu mehr familiären Spannungen, mehr Partnerschaftskonflikten und häuslicher Gewalt" führten. Er sagte weiterhin:
"Besonders angespannt war die Lage in Familien mit Kindern unter 14 Jahren."
Weiterhin treten Entwicklungsverzögerungen in der Motorik "sowie zu intensiver Medienkontakt" auf. Im zweiten Lockdown 2020 gaben "48 Prozent der Kinder und Jugendlichen an, dass sich ihre Fitness verschlechtert hat und 28 Prozent gaben an, dass ihr Gewicht zugenommen hat", gibt Wieler zu bedenken. Insgesamt schlussfolgert das RKI, dass aufgrund der negativen Folgen für Kinder und Jugendliche weitere Schulschließungen "so spät wie möglich eingesetzt werden" sollten. Ausgeschlossen werden diese also nicht.
Während der Virologe Christian Drosten in seiner Stellungnahme an das Verfassungsgericht die Ansicht wiedergibt, "dass Kinder das Virus unter natürlichen Bedingungen so häufig wie Erwachsene weitergeben", schreibt das RKI, seine Daten deuteten darauf hin, "dass Kinder wahrscheinlich eine niedrigere Viruslast haben als Erwachsene" und somit insgesamt weniger infektiös sind als Erwachsene".
Auch die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) stellt fest:
"Kinder unter zwölf Jahren übertragen das Virus deutlich seltener als Jugendliche und Erwachsene. Sehr viel häufiger ist der Quellpatient bei Kindern eine erwachsene Kontaktperson."
Schulen seien deshalb auch keine "Treiber der Pandemie". Das ist eine Einschätzung, die das RKI zumindest für die zweite Welle auch so sieht. Die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie beantwortete die Fragen zusammen mit der Gesellschaft für Medizinische Informatik (GMDS) und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung.
Das in den vergangenen beiden Jahren vor allem politisch-medial verbreitete Mantra, dass Kinder eine Gefahr für alte Menschen darstellen und Schulschließungen diese Gefahr verringern könnten, bezeichnet die Fachgesellschaft der Kinder-Infektiologen als "ein immer wieder vorgetragenes, aber gänzlich unbewiesenes Narrativ". Es gebe schlicht und einfach "keine Hinweise dafür, dass Kinder in relevantem Maße zu dem Ausbreitungsgeschehen in die Bevölkerung hinein beigetragen" hätten, wie die DGPI schreibt.
Die Mediziner resümieren in ihrer Stellungnahme, dass:
"der infektiologischen Bedeutung der Kinder in der Pandemie ein unangemessenes Primat eingeräumt und die gravierenden Kollateralschäden faktisch ebenso ignoriert wurden wie das Grundrecht der Kinder und Jugendlichen auf soziale Teilhabe".
Unklar ist, ob und welche Konsequenzen eine Entscheidung des Verfassungsgerichts haben wird, falls die Maßnahmen im Nachgang ganz oder teilweise als verfassungswidrig eingeschätzt werden. Auch ist unklar, wann genau Karlsruhe sich dazu äußern wird.
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