von Kaspar Sachse
Er will es mindestens noch einmal wissen: Mit seinem neuen Buch "Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus" (Berlin: Suhrkamp 2021, 511 S., 28 €) legt der Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln eine fundierte Gesellschaftsanalyse der großen Strukturprobleme einer globalistischen Weltordnung vor. Das Buch ist "der Versuch einer Rehabilitierung des Nationalstaats als Arena demokratischer Politik im Kapitalismus" (S. 41).
Gerade vor dem aktuellen Hintergrund der Corona-Krise, deren wirtschaftliche Verwerfungen zum großen Teil auf die Finanzkrise 2008 zurückzuführen sind, verspricht es einen enormen Erkenntnisgewinn – nicht zuletzt aufgrund der immer stärker vernetzten Akteure aus vermeintlich "demokratisch" nationalstaatlich legitimierter Politik einerseits und der globalen Finanz- und Wirtschaftselite andererseits – und zwar zum Nachteil aller, die nicht dazugehören.
Bereits der Einband zeigt die Hauptproblematik auf:
"In der Hochphase des Neoliberalismus galt die Globalisierung als unvermeidlich und die umverteilende Demokratie als überholt. Wachsender Wohlstand für alle war das Versprechen, wachsende Unfähigkeit, die kapitalistische Ungleichheitsmaschine zu bändigen, ist das Ergebnis. Taumelnde Volksparteien, schrumpfende Gewerkschaften und grassierende Zweifel an der Leistungsfähigkeit demokratischer Institutionen sind die eine Folge dieser Entwicklung."
Im Vorwort wehrt sich der 75-jährige Autor gegen den "neoliberalen Sirenengesang von einer alle Menschen zu Brüdern machenden Verlagerung von Politik und Demokratie auf ein zukünftiges, erst noch aufzubauendes weltweites Regierungssystem", denn eine dadurch entstehende "Entnationalisierung" steuere unwiderruflich auf eine "Welt- oder Kontinentalregierung" zu, die in der Konsequenz "eine Entdemokratisierung von Politik und politischer Ökonomie" zur Folge habe. Verstärkt werde diese Entwicklung durch die größere Furcht einer "grün-linken post-industriellen Mitte der Gesellschaft" vor einem "regulierenden Nationalstaat" als vor dem "selbstregulierenden Weltmarkt" (S. 12).
Doch zeigt Streeck in der Einleitung auch die Grenzen dieser Entwicklungen auf: Indem er konstatiert, dass der Globalismus besonders in der "nicht subsumierbaren Vielfalt der nationalen Kompromisse" am "Widerstand der kleinen Leute" eben nicht "durchginge" (S. 27) und somit scheitert oder scheitern werde. Nicht zuletzt sei dafür der Widerspruch zwischen der vermeintlich "freien Wirtschaft" und dem "starken Staat" zu eklatant, da letzterer "staatliche Zwangsmittel" braucht, um den Neoliberalismus vollziehen zu können (S.31).
Die zentrale Rolle, um den konstatierten "Widerstand der kleinen Leute zu brechen", nehmen Eliten ein, welche nicht zuletzt die Corona-Krise als gewaltiges Update zu ihren Gunsten und daher für den Globalismus nutzen – oder wie Streeck es (auf S. 33) formuliert:
"Eliten, die ihre Legitimität bedroht sehen, können unter Zuhilfenahme ihres politischen und kulturellen Kapitals sowie in Ausübung ihrer Kontrolle über die institutionalisierten Kanäle öffentlich vernehmbarer Rede den Konflikt mit ihren Gegnern als kulturell-moralischen Konflikt inszenieren."
Nicht umsonst zeigt sich besonders in der politisch-medialen Blase der letzten beiden Jahre die Stigmatisierung all derjenigen, die diese Entwicklungen kritisch sehen, durch widerwärtige und sinnfreie Wortschöpfungen wie "Klimaleugner", "Coronaleugner", "Schwurbler", "Querdenker" oder den altbekannten "Nazi" für migrationskritische Akteure: All diese Gruppen werden durch eine unbarmherzige "Cancel Culture" moralisch, sozial, aber auch existentiell aus der "ach so bunten" Weltgemeinschaft ausgeschlossen, denn sie alle eint eine antiglobalistische Haltung.
Im ersten von fünf Kapiteln "Kapitalistische Wirtschaft, demokratische Politik: Die doppelte Krise des Neoliberalismus" sieht Streeck das aktuelle Wirtschaftssystem durch Stagnation an seine Grenzen gelangt – Marx hätte wohl vom "Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate" gesprochen. Nicht zuletzt zeigt sich das darin, dass die Schuldenstände von Staaten, Unternehmen und Haushalten immer höher werden und vorhandenes Kapital trotz Nullzinsen oder sogar Negativzinsen kaum noch rentable Anlageklassen findet (S.77). Eine Folge ist, dass die "Einbettung von Märkten in Staaten" durch die "Einbettung von Staaten in Märkte" zu einer "Abkopplung der Demokratie vom Kapitalismus" (S. 142) geführt hat – also nur noch eine Fassadendemokratie vorhanden ist.
Im zweiten Teil "Staaten und Staatensysteme: Integration und Differenzierung" macht sich der Autor mit Rückgriff auf den politischen Ökonomen Karl Polanyi mit Blick auf soziale Gruppen in gut vernetzten, aber stets auch autonomen "Staaten und regionalen Staatengruppen" stark und erkennt in der "gegenwärtigen Weltlage ein historisches Gelegenheitsfenster [...], in dem eine Rückholung der Ökonomie in demokratische Kontrolle zumindest versucht werden könnte" (S. 232) – ein löbliches, aber gerade vor dem starken Einfluss von Big Money, Big Tech und Big Pharma auf Politik und Medien wohl naives Vorhaben, um dem an Kant orientierten "Weltstaat" Kontra zu bieten und die Kontrolle zurück zu erlangen ("'Taking back control'", S. 219-224).
Im folgenden Kapitel "Durchbruch nach oben? Großstaaterei und Ihre Grenzen" zeigt Streeck die "Widersprüche und Grenzen neoliberaler Globalisierungspolitik" auf – diese seien bezüglich Integration und Vereinheitlichung global wie regional erreicht oder gar überdehnt. Die viel beschworenen Ansätze für "global governance" erweisen sich für Streeck als Synonyme eines "liberalen Imperiums" (S. 304) – mit den USA im Mittelpunkt. Darüber sei die "institutionelle Verankerung der Hyperglobalisierung nie hinausgekommen", erst recht nicht, "um die zentrifugalen Kräfte in Zaum zu halten, die spätestens seit der Krise von 2008 die Internationalisierung von Märkten und Produktionssystemen zum Stehen gebracht und teilweise rückgängig gemacht haben" (S. 328).
Das vorletzte Kapitel "Europa: Gescheiterter Superstaat, scheiterndes Imperium" verdeutlicht die bisher beschriebenen Ansätze am Beispiel der Europäischen Union: Dort erklärt Streeck, dass ein supranationales "neoliberales Wirtschaftsregime" (S. 386), das durch wenig demokratisch legitimierte Technokraten verwaltet wird und beim Versuch noch weiter zu zentralisieren früher oder später erodierten werde. Ein möglicher Ausweg wäre, ein oder mehrere Schritte zurückzutreten, beispielsweise in eine Vereinigung souveräner Nationalstaaten.
Wie das aussehen könnte beschreibt er im letzten Kapitel "Ausweg nach unten: Kleinstaaterei und ihre Möglichkeiten". Dabei rekurriert Streck auf den US-amerikanischen Sozialwissenschaftler Herbert A. Simons zur "Zerlegung von Komplexität" in einer "global-interdependenten Welt" (S. 390) und den britischen Ökonomen, Politiker und Mathematiker John M. Keynes zur "nationalen Eigenständigkeit" und "Entkoppelung ihrer Nationalgesellschaften" (S. 398 ). Beide Autoren setzen sich – wie Streeck – für einen wiedergewonnenen wirtschaftlich und territorial fest umrahmten Staat ein. Nicht zuletzt müsse dieser zwingend demokratisch legitimiert sein, um seine Bewohner vor den negativen Folgen einer Hyperglobalisierung zu schützen, und "kooperativ statt imperial" (S. 490) vernetzt sein.
Wie der Autor die nicht zuletzt in den zurückliegenden zwei Jahren ihre Vermögen und damit beispielsweise auch ihre mediale Macht ("globalistische Propaganda", S. 508) massiv ausgebaute Globalelite von Bill Gates bis George Soros in Schach halten will, ja für seine Ziele sogar entmachten müsste, lässt er allerdings offen. Dennoch ist sein imposantes Werk eine geniale Analyse der ganz "demokratisch" an die Wand gefahrenen globalen Verflechtungen von Politik und Wirtschaft der letzten Jahrzehnte – deren angestrebte "Zerlegung in Subsysteme", also in "souveräne Nachbarstaaten" (S. 509), nur dann funktionieren kann, wenn sich die – gerade im "Westen" – in vielerlei Hinsicht bewusst gespaltene Gesellschaft gegen ihre globalistischen Peiniger zur Wehr setzen würde.
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