Schweizer Infektiologe über Corona-Immunität: Wieder Hände schütteln und soziale Kontakte zulassen

Die Anti-Corona-Maßnahmen können das Immunsystem der Menschen schwächen, sagt der renommierte Schweizer Infektiologe und ehemalige Klinikchef Pietro Vernazza in Interviews. Er spricht sich dafür aus, wieder mehr soziale Kontakte zuzulassen. Er ist für das Impfen von Erwachsenen, aber gegen Injektionen bei Kindern.

von Tilo Gräser

"Wir können das Virus nicht wegzaubern, mit keiner Maßnahme." Das hat der Schweizer Infektiologe Pietro Vernazza in einem Radio-Interview mit dem Sender SRF am Dienstag erklärt. Er sprach sich dabei gegen zu einfaches Denken in der Pandemie aus.

Vernazza vermutet, dass die Anti-Corona-Maßnahmen seit anderthalb Jahren das Immunsystem der Menschen geschwächt haben. Das sieht er als möglichen Grund dafür, dass die als "Infektionszahlen" bezeichneten positiven Testergebnisse auf SARS-CoV-2 sowie Krankenhausbehandlungen wegen COVID-19 in der Schweiz und anderen Ländern im Sommer überraschend gestiegen sind.

"Wir müssen verstehen, dass das Virus einfach da ist und wir uns in den nächsten Jahrzehnten damit immer wieder auseinandersetzen müssen", betonte Vernazza und fügte hinzu:

"So läuft das in der Natur. So ist das in der Natur eingerichtet. Wir müssen da mitmachen. Es lohnt sich nicht, die Natur verändern zu wollen."

Der Mediziner war bis Ende August Leiter der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital St. Gallen. Er gehört seit Jahrzehnten zu den profiliertesten und international anerkanntesten Medizinern aus der Schweiz. Vor allem durch seine Forschung zu HIV hat er sich weltweit einen Namen gemacht. Seit Beginn der am 11. März 2020 von der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufenen Pandemie hat er die eingeleiteten Maßnahmen immer wieder kritisiert und mehr Augenmaß eingefordert.

Frage nach Maßnahmeneffekt

Das hat er im jüngsten Interview mit dem SRF erneut getan. Ihn treibt nach seinen Worten die Frage um, "ob wir mit den Maßnahmen, mit der Distanzierung, mit dem Auseinandertreiben der Menschen, mit der Kontaktverhinderung nicht auch nachteilige Effekte haben". In einem am 28. August veröffentlichten Interview mit der Aargauer Zeitung sagte der pensionierte Klinikchef:

"Wir haben Millionen in die Maßnahmen gesteckt, ohne deren Nutzen zu überprüfen. Es wurde verpasst, eine Begleitevaluation zu machen. Es ist daher hypothetisch sogar möglich, dass unsere Maßnahmen schädlich waren. Ich habe in der Aids-Arbeit gelernt: Interventionen müssen begleitet und validiert werden."

Auf die Frage im Radio-Interview, wie er die drohende "vierte Welle" sehe, sagte Vernazza, er halte den Begriff für unsinnig. Es gebe bei Infektionen ein natürliches Auf und Ab, das vor allem saisonal bedingt sei. "Wenn man immer so klar und immer alles testen würde, würde man auch bei anderen Infektionen derartige Wellen sehen", sagte der Mediziner.

Allerdings habe er das derzeitige Steigen der positiven Testergebnisse, die als "Infektionen" gemeldet werden, wie auch zunehmende Krankenhauseinweisungen wegen COVID-19 nicht erwartet. Das sei zur "falschen Jahreszeit" geschehen und könne mit den Ferienrückkehrern aus anderen Ländern erklärt werden.

Übersehene Rolle des Immunsystems

Derzeit beruhige sich die Lage wieder, berichtete er von dem Krankenhaus in St. Gallen, in dem er tätig war. Vernazza nannte noch eine andere mögliche Ursache für das Geschehen: Durch die "gut gemeinten" Maßnahmen, die das Virus SARS-CoV-2 eindämmen sollen, wurde das Immunsystem der Menschen geschwächt. Der Infektiologe verwies dabei auf das Konzept der "trained immunity", der trainierten Immunität.

"Gemäß neuesten Erkenntnissen scheint das natürliche Immunsystem für die Abwehr der Coronaviren wichtiger zu sein, als wir bisher angenommen haben." Darauf hatte der Infektiologe bereits im Interview mit der Aargauer Zeitung aufmerksam gemacht. "Trainiert wird das natürliche System auch von Viren."

Dadurch baue sich die Abwehr des Körpers auf, so Vernazza im SRF. Vor allem im Winter geschehe das, wenn unter anderem die RNA-Viren wie Influenza, die RS-Viren und andere auf uns einstürmen. Das wird dem Mediziner zufolge in der Debatte um COVID-19 zu wenig beachtet und wahrgenommen.

Infolge der Maßnahmen könne sich "eventuell paradoxerweise" die Immunantwort der Menschen auf Krankheitserreger verschlechtert haben, so der Infektiologe im Radio dazu. Das Konzept kann aus seiner Sicht erklären, warum derzeit vor allem Infektionen jüngerer Menschen, auch mit schweren Verläufen, gemeldet werden. Im zurückliegenden Winter seien beispielsweise bei Kindern keine Infektionen mit RSV-Viren registriert worden. Vernazza sieht die Ursache dafür in den durch das verordnete "Social Distancing" eingeschränkten Kontakten der Menschen.

Verhinderte Infektionen nachgeholt?

"Da wir in den vergangenen eineinhalb Jahren stark auf Social Distancing geachtet haben, ist es möglich, dass unsere Körper in einem Zustand sind, in dem die Immunantwort schwächer ist", sagte der Infektiologe dazu der Aargauer Zeitung.

"Den Effekt der Social-Distancing-Massnahmen auf den 'Trainingszustand' des Immunsystems hat man bis jetzt noch nicht genau betrachtet."

Durch ein Verhindern der Infektion trete diese oft später auf, so Vernazza. "Wenn sie später auftritt, kommt es oft zu schwereren Verläufen." Diese Hypothese könnte erklären, dass derzeit nicht nur in der Schweiz viele Fälle von Kindern mit Infektionen mit RS-Viren registriert werden.

Darauf wies der Mediziner gegenüber dem Sender und zuvor gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) hin. Das sind laut seiner Aussage im SRF "so viele Fälle wie nie zuvor", und "im Sommer gibt es normalerweise keine Winterviren". Er betonte, dass das ein globales Phänomen sei und zum Beispiel auch in Australien beobachtet worden war.

Im NZZ-Interview vom 1. September hatte er dazu gesagt: "Es wäre nun denkbar, dass wir durch die selteneren Auseinandersetzungen mit Virusinfektionen allgemein unsere Abwehr schwächen. Das ist durchaus möglich, muss allerdings noch bewiesen werden." Der "Trainingsmangel" könne ebenso die Abwehr von Grippe- und anderen Viren schwächen.

"Falls die Hypothese zutrifft, sollten wir nicht mehr alle möglichen Infektionen verhindern. Vielleicht sollten wir uns wieder die Hand geben und soziale Kontakte wieder zulassen."

Für Injektion gegen COVID-19

Dennoch sprach er sich in den Interviews erneut dafür aus, dass Menschen sich gegen COVID-19 impfen lassen. Auf die zahlreichen Einwände gegen die experimentellen Stoffe, die immer noch nicht regulär zugelassen sind, ging er nicht ein – auch, weil er wie von SRF-Moderatorin Barbara Peter nicht danach gefragt wurde. Er sagte aber kurz, durch gute Informationen ließen sich die unter anderem Zweifel an den neuartigen mRNA-Stoffen, die injiziert werden, ausräumen.

Vernazza setzt sich nach eigener Aussage seit 30 Jahren für das Impfen als Mittel ein, um Krankheiten zu bekämpfen. Deshalb unterstütze er auch weiter die aktuelle Impfkampagne im Kanton St. Gallen. Es gehe dabei nur darum, schwere Erkrankungen zu verhindern, stellte er klar.

"Impfen hat eine sehr gute kurzfristige Wirkung für den Schutz vor schweren Verläufen", erklärte der renommierte Infektiologe im SRF und sprach sich zugleich deutlich dagegen aus, Kinder zu impfen, was auch in der Schweiz angestrebt wird. "Kinder sind nicht die Treiber der Epidemie", begründete er das. Auch die Delta-Variante stellt aus seiner Sicht keine besondere Gefahr dar.

Er sei nicht grundsätzlich dagegen, Kinder zu impfen, sagte Vernazza. Aber derzeit gelte:

"Kinder selber sind nicht primär gefährdet durch Infektionen."

Nur wenn klar sei, dass die Injektionen "völlig bedenkenlos" sind, sei er nicht dagegen. Es gebe keine verlässlichen Daten zu möglichen Nebenwirkungen bei Kindern durch die Stoffe, die gegen COVID-19 injiziert werden, hob der Mediziner hervor.

Die Erfahrungen mit Impfungen für Kinder zeigen laut seiner Aussage, dass diese anders als Erwachsene vor allem schwere Nebenwirkungen erleiden, so durch Autoimmunerkrankungen. Er erinnerte an die Schweinegrippe-Pandemie 2009/2010, in deren Folge Tausende Nebenwirkungen nach Impfungen registriert worden waren, zum Teil erst Jahre später, so in Italien und in Skandinavien.

Gegen offenen und versteckten Impfzwang

Vernazza sieht als Ziel, zu verhindern, dass das Gesundheitssystem überlastet wird – und "nicht das Ziel, plötzlich jede Infektion zu verhindern". Er sieht die Injektionen als einzige "gute spezielle Maßnahme", um die Pandemie zu bekämpfen. Zugleich wandte er sich gegen jeglichen Impfzwang.

"Menschen sollen selber frei entscheiden können: Ich will, dass die Krankheit bei mir milder verläuft, also lasse ich mich impfen."

Der Infektiologe bezeichnete sich im Radiointerview als "liberal eingestellt": "Was ich nicht gut finde, ist, dass man Zwang aufbaut." Das geschehe unter anderem durch die derzeit ausgeweitete Pflicht in der Schweiz, unter anderem in Restaurants einen COVID-19-Impfnachweis vorzuweisen.

Vernazza will stattdessen mehr Information und Vorbilder, wie er sagte. Er wandte sich dagegen, die Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte zu spalten. Das geschehe unter anderem durch "giftige Kommentare in Medien und in der Politik", bedauerte der Mediziner. Er wünsche sich "mehr Besonnenheit und Zurückhaltung".

Für freies Denken und neue Denkansätze

Ebenso sprach sich Vernazza im Radio gegen das Denken in Schubladen und in Schwarz-Weiß-Mustern aus, das nur Feindbilder hervorbringe. Der renommierte Mediziner hat das mit seiner Kritik an der Corona-Politik in der Schweiz am eigenen Leib erfahren. Schnell wurde ihm vorgeworfen, er verharmlose und leugne das Virus. Seine früheren Aussagen sind zum Teil "falsch zitiert" worden, erklärte er dazu dem SRF.

Er fügte hinzu:

"Ich versuche, selber zu denken. Ich will frei sein im Denken und vielleicht auch andere Gedanken entwickeln."

Es sei notwendig, Hypothesen aufzustellen nach dem Motto "Es könnte auch anders sein". Die Situation in der Pandemie sei komplex, weshalb einfache Sichten darauf untauglich seien. "Biologie ist einfach extrem komplex und hat immer etwas anderes parat." Deshalb halte er es für "sinnvoll, alle Möglichkeiten auszuloten".

Die aufmerksamkeitsgesteuerte mediale und politische Debatte macht es aus Vernazzas Sicht schwierig, die in der Wissenschaft wichtigen Hypothesen und Alternativsichten zu äußern. Für ihn gibt es "keine einfache lineare Art", gegen das Virus vorzugehen. "Das ist ein Missverständnis von Natur und Biologie."

Mit Verweis auf das Konzept der "trainierten Immunität" sagte er: "Es braucht verschiedene Denkansätze." Vernazza sieht es als Aufgabe an, "sehr viel weiter zu sehen und neue Sachen zu denken".

Kein schlimmer Winter in Sicht?

Mit Blick auf den kommenden Winter sagte er, dass sich seiner Einschätzung nach die Lage nicht verschlimmern wird. Ein großer Teil der Bevölkerung habe COVID-19 schon einmal durchgemacht oder sei geimpft worden und damit immun. Der Anteil der mindestens einmal Geimpften in der Schweiz liegt aktuell bei über 50 Prozent. Laut Vernazza ist von etwa 20 Prozent der Schweizer bekannt, dass sie durch Erkrankung oder Kontakt mit dem Virus immun seien.

"Deshalb rechne ich eigentlich – bezüglich COVID – nicht mit schwerwiegenden Problemen für den nächsten Winter", hatte er bereits der Aargauer Zeitung erklärt.

"Sorgen mache ich mir höchstens, falls sich bestätigen sollte, dass meine oben genannte Hypothese zutrifft: Dann müssten wir mit deutlich mehr Infektionen durch Grippe, RSV und andere Viren rechnen."

"In fünf Jahren haben alle das Virus mal gehabt", schätzte der Mediziner im SRF-Interview mit Blick auf SARS-CoV-2 ein und betonte: "Das Virus verändert sich laufend – das ist sein Job." Es werde saisonal immer wieder auftauchen, woran sich die Gesellschaft gewöhnen müsse. Und: "Wir müssen damit rechnen, dass alle angesteckt werden, auch die Geimpften."

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